Wolfgang Schneider: Was ist akzeptanzorientierte Drogenarbeit?

WOLFGANG SCHNEIDER

Was ist akzeptanzorientierte Drogenarbeit?*

Ausgangssituation

Ausschließlich abstinenzorientierte Konzepte und Strategien der Drogenpolitik und Drogenhilfepraxis in der Bundesrepublik Deutschland haben sich in der Vergangenheit als weitgehend nicht tragfähig erwiesen. Seit Ende der achtziger Jahre befindet sich nun Drogenhilfe  und Drogenpolitik in einer Umbruchphase. Beispielhaft sei hier nur die Substitutions-, Konsumraum und Heroinvergabediskussion genannt. Ausgelöst wurde dieser Umbruch von einer ausschließlich abstinenzorientierten Drogenhilfe hin zu einer adressatenorientierten, bedürfnisbezogenen Drogenarbeit durch mehrere Faktoren: Erstens muss hier die offenkundig geringe Reichweite des hochschwelligen und abstinenzorientierten Drogenhilfesystems angeführt werden. Zweitens „zwangen“ die sich von Jahr zu Jahr erhöhende Zahl von Drogentodesfällen meist bedingt durch die Auswirkungen der Kriminalisierung der Konsumenten und Illegalisierung der Substanzen, die zunehmende gesundheitliche und soziale Verelendung von zwanghaft und exzessiv Drogengebrauchenden in den öffentlich sichtbaren Drogenszenen sowie aufgrund der Illegalität ständig steigen­de gesellschaftliche Sekundärkosten (Beschaffungskriminalität etc.) zu einem Beschreiten neuer Wege. Die starke Ausbreitung der HIV- und Hepatitis – C und B Infektionen und das Aufkommen der Immunschwächekrankheit AIDS führte zudem dazu, neue Schwerpunkte im sekundärpräventiven Bereich (Schadensbegrenzungsmaßnahmen statt unmittelbare Abstinenzforderungen) der Drogenhilfe zu setzen. Auch der Ge­setzgeber der BRD ist diesem Ansatz zumindest teilweise gefolgt: 1992 wurde eine Opportunitätsvorschrift eingeführt (§ 31a BtMG), die eine Einstellung des Verfahrens bei geringen Mengen zum Eigenverbrauch seitens der Staatsanwaltschaft vorsieht, wobei eine länderspezifische Vereinheitlichung, was denn nun eine geringe Menge ist, immer noch aussteht. Ferner ist eine Substitutionsbehandlung in medizinisch begründeten Einzelfällen unter strenger ärztlicher und bürokratischer Kontrolle rechtlich zulässig. Erfolge sind inzwischen unstrittig, ca. 50.000 Menschen werden mit den unterschiedlichsten Opioiden, meist Methadon substituiert (vgl. Gerlach 2001).

Darüber hinaus stellt nach den BtMG-Änderungen vom 6.7.1992 die Abgabe bzw. der Tausch steriler Einwegspritzen kein Verschaffen bzw. Gewähren einer Gelegenheit zum „unbefugten“ Gebrauch mehr dar, sondern dient der Gesundheitsprävention und Infektionsprophylaxe. Wiewohl ein Gebrauch nicht „unbefugt“ sein kann, da konsumvorbereitende Maßnahmen wie Besitz und Handel, nicht aber der Konsum verboten ist. Weiterhin wurde ein Zeugnisverweigerungsrecht für Mitarbeiter der Drogenhilfe eingeführt. Nach dem dritten Gesetz zur Änderung des Betäubungsmittelgesetzes vom 28.3.2000 ist durch die Einfügung des neuen §10a ins Betäubungsmittelgesetz Rechtsklarheit über die Zulässigkeit von Drogenkonsumräumen hergestellt worden, ohne dass das Legalitätsprinzip damit jedoch aufgehoben wäre. Demnach muss eine länderspezifische Umsetzungsverordnung erlassen werden, nach der der Betrieb von Drogenkonsumräumen durch Setzung von „ordnungspolitischen“ Mindeststandards näher geregelt und per Antrag genehmigt werden kann. Ferner ist eine heroingestützte, videoüberwachte und mit Sicherheitsglas, Alarmanlagen und Sicherheitsring um die Abgabeeinrichtung dreifach gesicherte Behandlung für teilweise mit „Therapiepass“ ausgestattete sog. chronisch mehrfachbeeinträchtigte Abhängigkeitskranke („CMA“ – hier ist nicht das Gütesiegel für Fleisch aus deutschen Landen gemeint) im Rahmen einer Arzneimittelprüfung in  mehreren Städten der BRD  umgesetzt worden.

Trotz dieser sicherlich durchaus positiven drogenpolitischen Veränderungen muss eine ernüchternde Bilanz gezogen werden: Insgesamt gesehen kosten die ganzen angebots- und nachfragereduzierenden Maßnahmen für ca. 0,25 % der Bevölkerung in der BRD jährlich ca. 8 Milliarden Euro mit dem Resultat: Weiterhin hohes Mortalitäts- und Infektionsrisiko durch gepanschte und gestreckte Straßendrogen, 2003 1513 an den Begleitumständen des Drogengebrauchs gestorbene Menschen, 2003 über  20.230 erstauffällige Konsumenten illegalisierter Drogen (ohne das Dunkelfeld also, d.h. diejenigen, die nicht aufgefallen sind), Obdachlosigkeit und Kriminalisierungsdruck, ca. 20.000 zwanghaft und exzessiv Drogengebrauchende in Justizvollzugsanstalten, ca. 70% mit Hepatitis C infizierte Konsumenten, „Junkie-Jogging“ als Vertreibungsstrategie in den Großstädten (in Essen auch „Szenedislozierung“ (Raumverteilung) genannt, siehe: Bossong 2003, 46) und Razzien in niedrigschwelligen Drogenhilfseinrichtungen (Bielefeld, Bochum) sowie Videoüberwachung des öffentlichen Raums nebst neuer kommunaler Sicherheits- und Ordnungsverfügungen wie Platzverbote, Aufenthaltsverbote, Ingewahrsamnahmen für Menschen, die als „gefährlich“, bedrohlich, störend oder fremd visualisiert werden. Trotz Aufrüstung im „Drogenkrieg“  und „Schimanskisierung“ der Verfolgungspraxis gegen das Böse schlechthin, nämlich den Drogendealern erfolgte keine Einschränkung der Verfügbarkeit von illegalisierten Drogen (nur ca. 5% – 10% der angebotenen Drogen werden dem illegalen Markt entzogen). Die Mehrheit derjenigen, die sich einer stationären Therapie unterziehen (müssen), sind weiterhin sog. „Auflagenklienten“ nach § 35ff BtMG. Drogenhilfe hat es immer noch mit „Drehtüreffekten“ (Knast, Therapie, Szene) zu tun und eine längst überfällige Cannabisreformpolitik ist zu Grabe getragen worden.


Akzeptanz oder Abstinenz? Prämissen, Zielsetzungen und Ansprüche einer akzeptanzorientierten Drogenarbeit

Die moderne Sucht- und Drogenforschung hat eindringlich gezeigt, dass das, was wir als „Drogenabhängigkeit“ bezeichnen, kein statischer Zustand ist, der, einmal erreicht, nur über langzeittherapeutische oder stufenspezifische Betreuungsaktivitäten aufhebbar wäre. Drogenabhängigkeit ist nicht durch vorab festlegbare Kategorien definierbar. Es gibt weder „die“ Verlaufsform einer Drogenabhängigkeit, „den“ Drogenabhängigen oder gar „die“ Suchtpersönlichkeit, noch gibt es „die“ Ursachen für deren Entstehung. Kein Lebenslauf führt unweigerlich zur Abhängigkeit, selbst wenn er ungünstige personale, soziale oder materielle Prognosedaten anhäuft. Die Forschungsergebnisse widersprechen ferner

  •  einer Opfertheorie, die kein aktives Subjekt kennt, das sich mit den szenetypischen Widrigkeiten situationsspezifisch auseinandersetzt;
  • einer mechanistischen Betrachtungsweise der Drogengebrauchsentwicklung, die eine stereotype Abfolge von physischen und psychischen Zuständen unterstellt;
  • einer rein problemorientierten Beschreibung und Erklärung, die die Variabilität von Einstiegs- und möglichen Ausstiegsverläufen, deren Motive sowie die Etablierung auch kontrollierter Gebrauchsmuster negiert sowie
  • einer individuumzentrierten und rein drogenspezifischen Blickrichtung, welche umfeldgestützte Einflussgrößen vom Einstieg über zwanghafte oder kontrollierte Gebrauchsmuster bis hin zum möglichen Ausstieg außer acht lässt.

Zusammengefasst: Drogale Entwicklungsverläufe passen nicht zu einer simplifizierenden Kausalkette: Persönlichkeitsdefizit, Abhängigkeit, Betreuung, Behandlung, Abstinenz. Ein lineares Verlaufsmodell von Drogenabhängigkeit taugt nicht mehr zu ihrer Erklärung (vgl.: Schmidt 1996; Weber/Schneider 1997; Kemmesies 2002; Cramer/Schippers 2002; Schneider 2002). Sie kann also auch nicht mehr als eine rein pharmakologisch und psychisch bedingte, generell behandlungsbedürftige Krankheit angesehen werden. Ähnliche Ergebnisse liegen auch aus der Substitutionsforschung vor. Substitutionsbehandlungen wie auch Ausstiegverläufe erweisen sich als „gestreckte“ und zeitintensive Übergangsprozesse (Transitionen), die Veränderungen von relativ fixierten Szenezusammenhängen einleiten und nach und nach zu einer gelingenden Lebenspraxis im Sinne psychosozialer Stabilisierung mit und ohne Drogengebrauch führen. Wie auch immer geartete Ausstiegsszenarien sind höchst heterogen und variabel und verbieten demzufolge unzulässige Verallgemeinerungen und vorab definierte Stufen- oder Phasenmodelle.

Wenn Ausstiegsverläufe „retroaktive, übergangsbezogene, zeitintensive und umweltgestützte Selbstsozialisierungsprozesse“ (Schneider 2000a) sind, dann muss sich Drogenhilfe darauf einstellen. Denn: Drogengebrauchsverläufe sowie Ausstiegsszenarien sind nicht kausalanalytisch bestimmbar, es erfolgt kein sich quasi automatisch vollziehender Prozess der Abwendung vom dysfunktional erlebten Drogengebrauch. Daraus folgt: Wie auch immer geartete Ausstiegsprozesse sind nicht planbar und durch prognostische Ablaufmodelle strukturierbar; zu vielfältig, mehrdeutig und multiperspektivisch erweisen sich Drogengebrauchsentwicklungen und Ausstiegskontexte.

Die praktischen Konsequenzen für die Drogenhilfe erscheinen evident: Es kann nicht darum gehen, Modelle der freiwilligen Selbstbindung qua vermittelter Einsicht zu entwickeln. Diese sind – so zeigen die Erfahrungen der letzten 40 Jahre – zum Scheitern verurteilt. „Der Drogenabhängige bedient sich, bezogen auf seine Biographie, bestimmter bereitgestellter Dienstleistungen. Er wird eben nicht gegriffen und dann therapiert. Dieses Konzept ist gescheitert“ (Degkwitz 1996, 72). Das heißt aber auch: Der Gebrauch und Missbrauch von illegalisierten Drogen wird von Subjekten praktiziert. Der subjektive Faktor jedoch ist nicht quantifizier- und berechenbar sowie durch stufenbezogene Ablaufmuster (hierarchisch gestaffelte Zielvorgaben bzw. Stadien der Veränderung bis zur Abstinenz) standardisierbar. Drogenhilfe kann insofern auch nichts produzieren (Therapiemotivation, Abstinenz etc.), sondern lediglich Unterstützung zur Selbstproduktion anbieten: Die Nutzer von Drogenhilfe produzieren ihr Leben selbst. Drogenhilfe hat ebenso wenig wie die gesamte Sozialarbeit Zugriff auf subjektive Gründe menschlichen Verhaltens. Subjektivität, das Denken, Fühlen und Meinen ist kein „verfügbares, beliebig veränderbares, umprogrammierbares Material“ (Gloel 2002, 45), welches wie auch immer manipuliert werden kann. Dies ist professionelles Wunschdenken. Die Vorstellung, man müsste nur das entsprechende pädagogische „Werkzeug“ anwenden, um erwünschtes Verhalten herzustellen, ignoriert eklatant das eigentliche Wesen menschlichen Verhaltens.

Natürlich können sich Menschen (ver)ändern. Aber das ist ihr Werk, ihre Tatkraft und nicht das von Drogenhilfeexperten, die bestimmte „pädagogische“ Methoden als „Werkzeuge“ einsetzen. Menschen sind immer Subjekte ihrer eigenen Entwicklung, die natürlich prozessbezogen gestützt werden kann, aber nicht hergestellt, produziert. Es geht darum, Angebote (Maßnahmen) vorzuhalten, die günstige Bedingungen für die selbsttätige Gestaltung der je individuellen Lebenspraxis bereitstellen. Veränderungen gleich welcher Art entfalten sich immer nur in einem lebensgeschichtlichen Prozess. Insofern: Drogenhilfe kann sich nur als ein jeweils diskursiv bestimmter Aushandlungsprozess, als ein Interaktionsprozess begreifen, in dessen Gestaltung die Angebotsnutzer als selbstbestimmende, selbsttätig kooperierende Subjekte einbezogen sind. Drogenkonsumierende Menschen sind eben keine „Objekte“ fürsorglicher Bemühungen, d.h. „aus ihnen etwas anderes zu machen, als sie sind oder sein wollen“ (Gloel 2002, 48). Zudem gibt es keine kausal wirkenden Methoden zur planmäßigen Veränderung von Menschen mit dem Ziel der Abstinenz, auch wenn immer so getan wird, als gäbe es sie. Denn würde es sie geben, brächten wir keine Drogenhilfe, keine Sozialpädagogik, keine Psychologie mehr. „Abstinenz ist keine Zielvorgabe, sondern eine Wunschvorstellung“ (Amendt 2003, 147).

Grundlage akzeptanzorientierter Drogenarbeit ist es nun, Gebraucher illegalisierter Substanzen sowie auch zwanghaft und exzessiv Konsumierende als mündige, zur Selbstverantwortung und Selbstbestimmung fähige Menschen anzusehen. Akzeptanzorientierte Drogenarbeit basiert auf Freiwilligkeit und ist möglichst nicht bevormundend ausgerichtet. Drogengebraucher werden so akzeptiert wie sie sind. Der leider inzwischen inflationär verwandte Begriff Niedrigschwelligkeit bedeutet demgegenüber, dass wenig Hemmschwellen Drogengebrauchende von der Hilfsangebotsnutzung abschrecken bzw. ausschließen sollen. Insofern ist Niedrigschwelligkeit nur ein methodischer Ansatz, der nicht notwendigerweise eine Abkehr von der Abstinenzorientierung beinhaltet. Auf feste Terminvereinbarungen, Cleanstatus und der demonstrativen Darstellung einer Abstinenz- bzw. Veränderungsmotivation (Motivational Interviewing, Motivational Case Management (MOCA), passgenaue Interventionen und sog. In-Take-Gespräche bei Frühinterventionen zur Verhinderung/Verfestigung von Drogengebrauch sind neuerdings die neuen pädagogischen Wunderbegriffe) als Voraussetzung für Inanspruchnahme von Angeboten und Hilfestellungen wird verzichtet. In der Praxis hat sich inzwischen gezeigt, dass die Angebote akzeptanzorientierter Drogenarbeit (Kontaktläden, Konsumräume, Safer-Use-Vermittlungen, szenenahe, medizinische Akutversorgungen, Spritzentauschprogramme, Streetwork, niedrigschwellige Übernachtemöglichkeiten u.a.m.) es erreicht haben, auch diejenigen Drogengebraucher anzusprechen, die vom traditionellen, ausschließlich abstinenzorientierten Drogenhilfeverbundsystem  nicht erreicht werden konnten.

An die Umsetzung akzeptanzorientierter Drogenarbeit sind jedoch mehrere qualitative Orientierungsstandards gebunden:

  • Verständnis der positiven und negativ-schädlichen Seite von psychoaktiv wirksamen Substanzen (Drogenambivalenz);
  • Wahrung und Schutz der Menschenwürde;
  • Gelassenheit gegenüber der dynamischen und auch diskontinuierlichen Ent­wicklungsmöglichkeit auch bei zwanghaft und exzessiv Drogengebrauchenden;
  • Verzicht auf den helfenden Appell zur sofortigen Verhaltensänderung und auf übermäßige, von außen gesetzte Strukturierung des Kontaktverlaufes;
  • Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts von Drogengebrauchenden bezüglich Intensität, Richtungsverlauf und Verbindlichkeit der Kontakte;
  • Akzeptanz von Drogengebrauchenden als Subjekte ihrer eigenen Entwicklung (keine Klientelisierung und damit defizitbezogene Unterstellung genereller Behandlungsbedürftigkeit);
  • Akzeptanz des drogenbezogenen Lebensstils, jedoch keine „Verbrüderungen“ und Überidentifikationen bei eindeutiger, respektbezogener Grenzziehung;
  • Fachliche Herstellung eines ausgeglichenen Verhältnisses zwischen Nähe und Distanz sowie Verzicht auf helferische Verantwortungsübernahme (nach dem Motto: Du musst Dich verändern, sonst bin ich von Dir aber enttäuscht);
  • Fachliches Verständnis der bipolaren Berufsrolle (Kontrolle/Vertrauen);
  • Verzicht auf eine pädagogisch-instruktive Interaktion („Du sollst das wollen“), auf Instrumentalisierung und Vermeidung eines sozialpädagogischen Opportunismus (vgl. Schneider 2001; Schneider/Stöver 2000).

Folgende angebotsorientierte Zielsetzungen sind bei Berücksichtigung der Selbstverantwortlichkeit der Konsumierenden bedeutsam:

  • Überleben sichern
  • Sicherung eines gesunden Überlebens ohne irreversible Schädigungen
  • Verhinderung sozialer Desintegration
  • Gesundheitliche und psychosoziale Stabilisierung
  • Unterstützung eines selbstverantwortlichen, kontrollierten Drogengebrauchs als Vermeidung zwanghafter Gebrauchsmuster
  • Ermöglichung und Unterstützung längerer Drogenkontrollphasen (mit Substitut oder ohne)
  •  Unterstützung individueller Herauslösung aus der Drogenszene; Voraussetzung: Selbstveränderungsmotivation

Die Zugangsmethode „Niedrigschwelligkeit“ und der inhaltliche Arbeitsansatz Akzeptanz erhöht also insgesamt die Reichweite von Drogenhilfe. Da dieser Arbeitsansatz jedoch von grundsätzlich anderen drogentheoretischen Prämissen und drogenpolitischen Zielsetzungen ausgeht als die traditionelle, hochschwellige und klientifizierende (therapeutisierende) Drogenarbeit und die gegenwärtige, weiterhin repressiv orientierte Drogenpolitik, sollte akzeptanzorientierte Drogenhilfe niemals nur Ergänzung der Angebotspalette von klassischer Drogenhilfe sein, sondern immer wieder darauf hinweisen, dass erst die Illegalisierung wirklichen Konsumentenschutz verhindert. Jedoch: Auch heute noch werden risikominimierende und schadensbegrenzende Ansätze im Sinne der Leidensdrucktheorie als Methode der Suchtverlängerung, als „Kapitulation vor der Sucht“, als „Verflachung des Alltagshandelns“, als „nicht professionelle Arbeit“ (so: Schmid 2003) abgelehnt. Ferner bestimmen weiterhin Drogenmythen und Verteufelungs- und Dramenszenarien die politische, wissenschaftliche, öffentliche und auch drogenhilfepraktische Diskussion (etwa: Schneider,W., 2000; 2002a). Der Gebrauch illegalisierter Drogen wird meist noch als einmal gelöste Hinfahrkarte ins Jenseits gedeutet, die „schwer erkrankten Drogenabhängigen“ tauchen medienwirksam häufig nur als zuckende Leiber im Entzug, als behandlungsbedürftige Süchtige oder als jährliche Zählung von Leichen auf.

Zentral für eine akzeptanzorientierte Drogenarbeit ist es, durch den Aufbau diversifizierter Hilfsangebote für Drogengebrauchende – und das erscheint mir sehr wesentlich – eine echte Wahlfreiheit zwischen verschiedenen Hilfsangeboten zu schaffen. Drogengebrauchende, die unter ihrer illegalisierten Lebenssituation leiden und somit eine Lebensveränderung anstreben, sollten das Recht erhalten, über den für sie geeigneten Weg mit und ohne Drogen selbst zu bestimmen. Jedoch: Wir sprechen hier von akzeptanzorientierter Drogenarbeit im Rahmen des gegebenen Drogenhilfe- und Politiksystems. Eine wirkliche akzeptierende Drogenarbeit kann es unter der weiterhin gültigen Drogenverbotspolitik nicht geben. Akzeptanzorientierte Drogenarbeit bleibt unter diesen Bedingungen letztendlich Elendsverwaltung, dient der Sozialkosmetik und erhält sich durch ihre inzwischen breit gefächerte Institutionalisierung selbst. Bekanntlich haben Institutionen immer eine Tendenz zur Selbsterhaltung. Akzeptanzorientierte Drogenarbeit ist inzwischen zudem zu einer Art Managerin für öffentlich sichtbare Drogengebrauchsproblematik geworden. Sie konnte erst erfolgreich als schadensminimierende Hilfsstrategie durch ihre Fähigkeit, diese sichtbaren Drogenprobleme behutsam zu kontrollieren und somit deren Bedrohungspotential zu managen, umgesetzt werden: Sozusagen als weiche Form der sozialen Kontrolle für die Belange der inneren Sicherheit (auch: Dollinger 2002a).

Akzeptanzorientierung als zielgruppen- und sozialraumbezogene Arbeit ist als Empowerment zu verstehen, d.h. sie stiftet jenseits einer neuen pädagogischen Rezeptur von Methoden und Interventionsformen zur selbstbestimmten, eigeninszenierten Lebensgestaltung mit und ohne Drogen an. Es geht um Unterstützung effektiver (gesundheitsschonender) Verhaltensweisen in (riskanten) Drogengebrauchssituationen bei Berücksichtigung der Selbstwirksamkeit als konkretes Erleben bewusster Umweltkontrolle, und sei sie noch so „reduziert“.

Die Unterstützung zur Selbstwirksamkeit zielt auf die selbsttätige Setzung von Zielen und auf das Vertrauen  eigener Fähigkeiten zur Umsetzung der Ziele: Eigenmotiviertes Sich-Aneignen und nicht Angeeignet-Werden! Die Fähigkeit zur Veränderung drogendominanten Lebens, in welche Richtung auch immer (relative Abstinenz, risikobewusster Drogengebrauch, psychosoziale Stabilisierung mit und ohne Drogengebrauch, Substitution), ist darüber hinaus von der subjektiven Beurteilung der eigenen Fähigkeit zur Steuerungskompetenz abhängig (Kontrollüberzeugung). Kontrollüberzeugungen beschreiben dabei die Fähigkeiten eines Individuums, Situationen bzw. deren Folgen zu antizipieren, zu beeinflussen und angemessen zu deuten.

Aus der Motivationsforschung ist hinlänglich bekannt, dass eine Person dann bemüht ist, ein Ziel zu erreichen, wenn dieses Ziel für die jeweilige Person eine bestimmte Wertigkeit besitzt. Beides, die Handlungsergebniserwartung und die subjektive Selbstwirksamkeitswahrnehmung, die gestützt, aber nicht „produziert“ werden können, bestimmen die Handlungs- und Umsetzungsmotivation.

Durch die Stützung bzw. auch Vermittlung von risikobewussten Gebrauchskontrollregeln im Sinne von safer use-, safer work- und safer sex-Strategien kann das konkrete Erleben (Selbstwirksamkeits- und Kontrollerfahrung), dass man auch als Gebraucher illegalisierter Drogen über Fähigkeiten und Fertigkeiten zur aktiven Alltagsorganisation verfügt, ermöglicht werden. Stützung und Vermittlung von Selbstwirksamkeit mit Hilfe von Safer Use-Maßnahmen können so regulative Orientierungen zur Gestaltung des (auch) drogenbezogenen, genussorientierten Lebensstils bewirken. Betrachtet man die gesundheitspolitischen Aussagen beispielsweise der Ottawa-Charta vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Umgangs mit Konsumenten illegalisierter Drogen heute, dann muss festgestellt werden, dass die prohibitiven und ausgrenzenden Rahmenbedingungen, die Priorität repressiv und ordnungspolitisch geprägter Drogenpolitik die Umsetzung der Kernelemente „Selbstbefähigung“ und „Eigenverantwortung“ mehr als nur behindert (ausführlich: Schneider/Stöver 2000).


Der heimliche Lehrplan der Drogenhilfe und die Produktion von „Klienten“

„Drogenabhängigkeit“ wird immer noch als eine rein pharmakologisch und psychisch bedingte, generell behandlungsbedürftige Krankheit angesehen. Insofern werden auch Gebraucher illegalisierter Drogen gemeinhin in der Öffentlichkeit als Menschen dargestellt, die permanent und hochgradig an Drogen „hängen”, frühkindlich geschädigt, schwer krank, erheblich kriminell vorbelastet sind und keine eigenständige Lebensgestaltung mehr zustande bringen. Ihnen wird verallgemeinernd eine eingeschränkte Handlungsfähigkeit unterstellt, die einerseits aus der angeblich sich zwangsläufig entwickelnden „Abhängigkeit”, aus der pharmakologischen Macht der Drogen und andererseits auch aus ihren psychischen Prädispositionen resultieren soll . Hier greift denn auch der psychoanalytisch geprägte Mythos vom biographiebestimmenden Trauma der frühen Kindheit.  Forschungsergebnisse zum kontrollierten, regelorientierten, auch genussorientierten  Gebrauch illegalisierter Substanzen und zum Selbstausstieg ohne professionelle Behandlung zeigen jedoch, dass die gängigen, wertungsbezogenen Typisierungen von „Drogenabhängigkeit“ als „objektive“ Diagnosekriterien (wie zwangsläufige Toleranzentwicklung und Dosiserhöhungstendenz, Handlungsunfähigkeit, sofortiger Selbstkontrollverlust, automatischer körperlicher und sozialer Verfall, generelle Behandlungs­bedürftigkeit, störungsgeschüttelte Defizitgestalt) in ihrer Pauschalität und Linearität nicht mehr haltbar sind. Die Möglichkeit der Entwicklung eines zwanghaften und exzessiven Gebrauchs von allen Drogen liegt aber nicht an der jeweiligen Substanz, „sondern an einem falschen Umgang mit ihr, genauer: einer falschen Dosierung: zu schnell, zu oft, zu viel. Drogen führen nicht automatisch zur Sucht; die Sucht ist nicht Bestandteil der Droge“ (Dreitzel,H.-P., 1997, 2).

Die beschriebenen Symptomkriterien zielen nun auf die Beschreibung des Stigmas Sucht und Abhängigkeit. Krankheit und Gesundheit bzw. Krankheit und Nicht-Krankheit enthalten neben der Charakterisierung eines Verhaltens (oder wie beim „Abhängigkeitsbegriff“ eines Zustandes) immer eine Bewertung, die durch einen gesellschaftlich lizenzierten „Beobachter“ zugeschrieben wird. Je umfangreicher und „globaler“ nun Störungsdiagnosen ( Co- und Multimorbidität, primäre und sekundäre Depression, Über-Ich-Pathologien, Borderline, allgemeine Persönlichkeitsstörungen etc.) methodisch vermittelt werden, sie also zum Definitionsrepertoire von sog. „Diagnosefachkräften“ gehören, desto häufiger erfolgt auch eine entsprechende Zuschreibung. Natürlich gibt es derartige – wie auch immer bedingte – Krankheitsbilder. Doch durch die „schnelle“, verallgemeinernde Zuschreibung von Störungsdiagnosen wird dem Individuum „seine Eigenständigkeit, Willens- und Handlungsfreiheit komplett abgesprochen“ (Soellner, R., 2000, 198). Dabei kommen unterschiedliche Beobachter jedoch häufig auch zu unterschiedlichen Diagnosen oder – nach einem kulturell-gesellschaftlichen Wertewandel – zu neuen Definitionen. „Zum Beispiel gibt es in Amerika das sogenannte DSM, Diagnostical and Statistic manual. Damit ist man jetzt bei der dritten überarbeiteten Version angelangt. DSM-III-R. Das ist eine komplizierte, ausgeklügelte Auflistung aller nur möglichen seelischen und geistigen Störungen, auch psychosomatischer Art. Als man von DSM-II zu DSM-III überging, wurde aufgrund gesellschaftlichen Drucks die Homosexualität nicht mehr als Störung aufgeführt. Man hat so mit einem Federstrich Millionen Menschen von ihrer Krankheit geheilt. Einen solchen therapeutischen Erfolg findet man wohl nur selten“ (Watzlawick, P., 1992, 87f.).

Die weiterhin gültigen Interpretationsfolien vom defizitären und tief beschädigten Leben „des“ Drogenabhängigen, „des“ Suchtkranken sind allein „in den Begriffen von Mangel und Unfertigkeit“ (Herriger, N.,1997, 67), von frühkindlichen Beschädigungen, Identitätsstörungen, Vernichtungsgefühlen, fehlgeschlagenen Selbstheilungsversuchen, neurotischen Konfliktbesetzungen, narzisstischen Störungen und genereller Ich-Schwäche ausbuchstabiert. In der Drogen- und Suchthilfe dominiert denn auch weiterhin neben „der inflationären Anwendung der Suchtsemantik“ (Dollinger 2002b, 39) und deren klassifikatorische Diagnosesysteme die „berufliche Fürsorglichkeit“ gestützt auf der Annahme, dass „Klienten“ zu „Klienten“ werden, weil sie „Träger von Defiziten, Problemen, Pathologien und Krankheiten sind, dass sie – in kritischem Maße – beschädigt oder schwach sind“ (Herriger, N.,1997, 68). Gebraucher illegalisierter Drogen werden zu Opfern, den man sich helfend nähern kann. Diese Deutungsfolien legen den Hilfenachfragenden allein auf Kategorien des Versagens, des Gestört-Seins, des Misslingens, der Nicht-Normalität fest; letztendlich begibt sich der Nutzer der Drogenhilfe, will er denn die institutionelle Interaktion nicht scheitern lassen, „in das Gehäuse der Experten-Interpretation“ (Herriger, N.,1997, 69) und übernimmt die angebotenen Wahrnehmungs- und Deutungsweisen: Sie werden zu Klienten („Schutzbefohlenen“). So z.B. kann die häufig festgestellte Übernahme therapeutischer sowie sozialpädagogischer Sprachregelung durch die Betroffenen als eine (sicherlich verständliche) ritualisierte Form der überlebensnotwendigen Anpassung angesehen werden. Was dann allerdings auch zu Selbststigmatisierungen führen kann. Die Selbstdefinition „Ich bin ja süchtig, schwer krank, ihr müsst mir helfen“ eröffnet den „Betroffenen“ dann auch problemlos den Zugang zu medizinischen, therapeutischen und sozialpädagogischen Hilfeeinrichtungen. Sie werden häufig „mit offenen Armen“ empfangen. Diese Selbstetikettierung  ermöglicht ihnen aber auch eine Entlastung von der oftmals harten Selbstverantwortlichkeit. Folge ist den auch eine Verleugnung ihres Selbstbestimmungsrechtes. Sie verbleiben im wärmenden Schoß der Drogenhilfe als „arme“ Opfer der Pharmakologie von Drogen, der Gesellschaft, der frühen Kindheit oder Persönlichkeitsstörungen.

Gebraucher illegalisierter Substanzen sind jedoch per se keine Klienten, sondern werden durch das therapeutische und sozialpädagogische Diagnosesystem dazu gemacht. Dem Drogenhilfesystem kommt es vorrangig darauf an, die eigene Selbsterhaltung zu stabilisieren; es steht ständig unter Legitimations- und Selbstvergewisserungsdruck. „Dazu muss es dauerhaft Bedürftigkeit diagnostizieren, da es nur in Fällen von Bedürftigkeit operieren kann“ (Weber,G./Hillebrandt,F., 1999, 239). Insofern benötigt das gesamte soziale Hilfesystem „Klienten“, denn sonst würde es sich selbst in Frage stellen. „Klienten“ dürfen also nicht verschwinden, denn im Klienten verdichten sich sozialarbeiterische und therapeutische „Problem- und Defiziterzählungen“. Mit Hilfe dieser „Erzählungen“ über Klienten dehnt sich die sozialpädagogische und therapeutische Kommunikation – methodisch und wissenschaftlich abgesichert –  aus und steuert somit die „klientenbezogenen“ Interaktionsprozesse. Dadurch wird die Zuschreibung von unterstellten Motiven, Störungen, Defiziten, Problemen und Krankheiten erst ermöglicht (vgl. Eugster 2000). „Klienten“ finden sich somit recht schnell in einem Zuschreibungsgefängnis wieder, aus dem es kaum ein Entrinnen gibt. Die Geschichte der Drogenhilfe zeigt: Wo „Klienten“ ausbleiben, werden schnell Problembereiche konstruiert, um neue „Klienten“ zu rekrutieren. Drogenhilfe ist immer auf „Problemnachschub“ angewiesen.

„Drogenabhängige“ Menschen als Objekte der medizinischen, psychiatrischen, drogenhilfepraktischen und repressiven „Fürsorglichkeit“ scheiden aufgrund ihrer Definition als „behandlungsbedürftige, gestörte Klienten“, die zudem auch noch kriminell sind, von vornherein als gleichberechtigte Verhandlungs- und Kooperationspartner aus. Sie werden – wie beschrieben – zu „Klienten“ gemacht. Behandlungs- und Betreuungsmethoden als drogenhilfepraktische Interventionen gründen sich auf Zuschreibungskonstrukte und die Verallgemeinerung von (sicherlich vorhandenen) Drogengebrauchsrisiken. So ist beispielsweise auch ohne die „ständige Energiezufuhr generalisierter Risikounterstellung so etwas wie Prävention nicht etablierbar“ (Eugster,R., 2000, 89).  Damit kommt es zwangsläufig zu einer Expansion des „moralischen Unternehmertums“, d.h. zur „Ausdehnung des medizinisch-pädagogisch-sozialarbeiterischen Zuständigkeitsbereiches“ (Eugster 2000, 89). Entsprechende Behandlungs- und Betreuungsmethoden können nicht von den sie erst konstituierenden Definitions- und Zuschreibungsverhältnissen abgelöst werden. Interventionen im Drogenhilfebereich müssen sich bestimmter Techniken und Methoden bedienen, sonst werden sie „sinnlos“. Sie orientieren sich dabei an Qualitätsstandards, die genau definiert werden und somit „Interventionssinn“ objektivieren, so dass sie „für jeden Bearbeiter denselben Sinn ergeben…Durch zuverlässige Kausalannahmen kann bei feststehenden Prämissen und Zielen dann das passende Mittel ausgesucht werden“ (Horn 1994, 204). Alles muss im Sinne deutscher Ideologie übersichtlich, eindeutig, kurz: in Ordnung sein. Diese methodisch gestützten Sinngebungsprozesse münden meist in empathische, selektive und typisierende  Fallkonstruktionen. Die Konsequenz ist ein „Zwang“ zur Hilfs- und Behandlungsbedürftigkeitsunterstellung: Der entsprechende Nachweis wird tagtäglich kommunikativ in abertausenden Teamsitzungen hergestellt und somit auch in den „Köpfen“ verfestigt (beliebter Spruch von Sozialpädagogen im Praxisalltag: „Die/der hat aber die Kacke am Dampfen“). Die darauf aufbauende sozialpädagogische und therapeutische „Reparaturmentalität“ wird so permanent reproduziert und dient auch der individuellen sowie gesellschaftlich notwendigen Handlungslegitimation nach innen und außen.


Fazit und Ausblick

Illegalisierung der Substanzen und Kriminalisierung der Konsumenten verhindern im Verbund mit der unaufhebbaren Asymmetrie der Denk- und Handlungssysteme von Konsumenten und Experten grundsätzliche Akzeptanz. Dies begünstigt und unterstützt im „Handlungssystem“ Drogenhilfe die Aufrechterhaltung bestimmter Junkiebilder: Sie sind krank, hilfs- und behandlungsbedürftig, störungsgeschüttelt, nicht vertrauenswürdig, link, Lügner, Abzocker etc. Insofern werden immer neue Kontrollregeln im institutionellen Rahmen der Drogenhilfe entwickelt und umgesetzt, was im gegebenen Handlungssystem Drogenhilfe logisch erscheint, aber Akzeptanz unmöglich macht.

Gerade im Zuge einer zunehmenden Roll-Back-Situation in Drogenhilfe und Drogenpolitik (Stichworte: Bürokratisierung und Verordnungswahn, Rückkehr einer „subtilen“ Abstinenzorientierung, effizienzsteigernde, quantifizierende Qualitätssicherung, Sozialpädagogisierung, Therapeutisierung,  „weiche“ und „harte“ Szenenzerschlagung („Dislozierung“), Medizinalisierung, Psychiatrisierung) besteht Anlass genug, ein Resümee zu ziehen: Die Aufbruchstimmung, die mit der Konzeptualisierung einer akzeptanzorientierten Drogenhilfe verbunden war, weicht mehr und mehr einer verschwommenen Methodisierung; eine subtil „verkaufte“ Medizinalisierung der Drogenhilfe und Medikalisierung von Sucht sowie Psychiatrisierung (Stichwort: Chronisch mehrfachbeeinträchtigte Abhängigkeitskranke – CMA -, Komorbidität, multi-morbide Heroinabhängige, „Chroniker“) tritt immer stärker in den Vordergrund.

Was hat beispielsweise die Qualitätssicherungsdebatte gebracht? Neue, teuere Qualitätsbeauftragte, Verbetriebswirtschaftlichung der Drogenhilfe und eine riesige Anzahl an Institutionen, die Qualitätsmanagementkurse zu horrenden Preisen anbieten. Sie hat darüber hinaus eine neue Sprachregelung geschaffen. D.h. was bisher in der Drogenhilfe immer schon getan wurde, wird nun als „Produkt“ reformuliert. Der Begriff „Produkt“ ist unter der Maxime einer Verbetriebswirtschaftlichung der Sozialen Arbeit geradezu genial. „Gewinnt doch – gerade auch der mühevolle – Arbeitsprozess dadurch seinen Sinn und sichern doch die an ihm Beteiligten darin ihre Identität, dass sie etwas produzieren“ (Volz, F.-R., 2000,174), also nicht nutzlos sind (wobei man gelegentlich auch lernt, „Nichts-Tun“ zu tun). Es stellt sich „Produzentenstolz“ ein. Aus „Klienten“ werden dem Ökonomie-Primat folgend „Kunden“. „Die Vorstellung von der Machbarkeit, Herstellbarkeit von Produkten erweist sich da, wo es um Menschen, ihre Einstellungen und Verhaltensweisen geht, als Wahn“ (Gloel, R. 2002, 45). Diese Vermarktwirtschaftlichung der Drogenhilfe führt recht bald dazu, dass auf der Kundenebene (Käufer-Verkäufer) die kapitalistische Zirkulation des liebenswürdigen Scheins auf der Ebene prinzipieller Gleichgültigkeit reproduziert wird. „Warenbesitzer“ (Drogenhilfe) und der angebliche „Käufer“ (Drogenkonsument) stehen sich dann eher zufällig und voller Misstrauen gegenüber: Es geht um Konkurrenzfähigkeit auf dem Hilfemarkt. Gebraucher illegalisierter Substanzen können nicht wirklich „Kunden“ sein, da sie weder kaufen und bezahlen, noch genussorientiert und straf,- angst- und bevormundungsfrei ihre Konsumbedürfnisse, nämlich Drogen zu konsumieren, befriedigen können. Die, die wirklich zahlen und entsprechende Bedarfe festlegen, sind nicht die Konsumenten als „Kunden“ oder „Klienten“. So ist der Kunde in der Marktwirtschaft schon „eine eher traurige Figur, weil sich der Respekt vor ihm nicht auf seine Person, sondern auf seine Zahlungsfähigkeit richtet“ (Gloel 2002,  47).

So notwendig ferner auch Drogenkonsumräume und heroingestützte Behandlungsformen für die Einleitung von Normalisierungsprozessen auch sein mögen, unterliegen sie doch spätmoderner Kontroll- und Integrationspolitik. Es geht darum, den Fixer und den Konsumakt unsichtbar zu machen. Drogenpolitik erweist sich mehr und mehr als Regulierungspolitik eines besonders sichtbaren „sozialen Problems“. Sie ist darauf gerichtet, diese Sichtbarkeit möglichst zu verringern, um den gefürchteten, öffentlichen Problemdruck zu reduzieren. „Nicht gesellschaftliche Integration und die Teilhabe am urbanen Leben ist die latente Funktion, die mit Druckräumen verbunden ist, sondern ein zunächst a-moralisiertes Unsichtbarmachen“ (Küster/Wehrheim 2003, 23f). Drogenhilfe nun präsentiert sich zuweilen auch als Zirkus: Klientendompteure treten gelegentlich unterstützt von Clownerien auf, Drahtseilartisten versuchen sich in Suchtprävention, Drogenhilfeträger jonglieren zwischen Bestandserhaltung, Verbetriebswirtschaftlichung, Qualitätssicherung und Leistungsverträgen. Sondermaßnahmen für „sonderbare Menschen“ und für die Inkarnation des „Bösen“ (Rauschgifte, Drogendealer) werden permanent ausgeweitet. Wir sind jedenfalls auf dem besten Wege, dass die Anzahl der Drogenhelfer, Suchtmediziner, Präventionsfachkräfte, Casemanager, Qualitätssicherer, Drogentherapeuten, Drogenpolitiker, Schadensbegrenzer, Drogenforscher und Drogenverfolger die geschätzte Zahl der Gebraucher illegalisierter Drogen bald übersteigt oder schon überstiegen hat. Und: „Die Drogenhilfsindustrie – ob sie es will oder nicht – ist zusammen mit den Drogenfahndungsbehörden und koordinierenden Instanzen zu einem wichtigen Bestandteil der Interessengruppen geworden, die sich um die Drogenproblematik geformt haben. Denn schließlich ist das Drogenproblem die Quelle ihrer Einkommen und gibt ihnen ihren Status“ Cohen 2001, 26). Eine „andere“ Drogenarbeit und Drogenpolitik mit dem Ziel einer weitgehenden Akzeptanz von drogenkonsumierenden und auch süchtigen Menschen wird erst dann gelingen, wenn die repressive Drogenverbotspolitik aufgehoben ist und die herrschenden Drogenmythen „entzaubert“ sind. „Die individuellen und sozialen Strategien, die gesellschaftlich angeboten werden, Menschen aus der Drogensucht zu helfen, sind ausnahmlos zum Scheitern verurteilt, solange sie nicht auf dem individuellen Willen zur Souveränität gegenüber Drogen aufbauen können“ (Dreitzel 1997, 2).

Um es an dieser Stelle noch einmal deutlich hervorzuheben: Es wird hiermit nicht geleugnet, dass es viele Menschen gibt, die unter der Kriminalisierung/Illegalität, der Verstrickung in zwanghafte und exzessive Drogengebrauchsmuster und den daraus bedingten physischen und/oder psychischen Krankheiten leiden oder selbstmedikativ Drogen aller Art zur Problemverarbeitung einsetzen und insofern kompetente, insbesondere auch medizinische und therapeutische Hilfen benötigen.

Eine drogenpolitische Umorientierung ist noch längst nicht vollzogen, Voraussetzung dafür wäre, die repressive Drogenverbotspolitik aufzuheben, um somit auch die „Drogenhilfe“ in ihrer gesamten Spannbreite der zugeschriebenen Funktionen als Rettungsinstanz zur Befreiung von einem gesellschaftlichen Grundübel und als Wiederherstellungsinstanz von Normalität und Abstinenz zu entledigen. Dies setzt weiterhin die Anerkennung der (auch genussbezogenen) Selbstgestaltung des Lebens mit und ohne Drogen voraus. Es geht dabei um die Vermittlung von notwendiger Risikokompetenz für den Umgang mit möglichen „riskanten Räuschen“. Wobei das „Risiko“ des Misslingens stets einkalkuliert werden muss: Drogengebrauchshasardeure und die missbräuchliche und kompulsive  Verwendung von allen Substanzen zur Veränderung des „normalen“ Wachzustandes wird es immer geben. Alles was lebensnotwendig und genussorientiert ist, birgt immer auch Risiken. Realität ist: Das Dionysische wie das Apollinische gehört zum Menschsein und ist integraler Bestandteil gesellschaftlichen Lebens.

„Das Phänomen Droge ist ein natürliches Phänomen, während das Problem Droge ein kulturelles Problem ist“ (Samorini, G. 2002, 114).


Literatur:

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(Diese Seite wurde zuletzt überarbeitet am 10.03.2006)