Dr. Wolfgang Schneider: Was ist Niedrigschwellige Drogenhilfe?

Was ist Niedrigschwellige Drogenhilfe?

Dr. Wolfgang Schneider*

Niedrigschwellige Drogenhilfe versteht sich als ein sozialraumbezogenes, szenenahes und akzeptanzorientiertes Unterstützungsangebot für drogenabhängige Menschen aus der Drogenszene in kooperierender Vernetzung mit allgemeinen Versorgungs- und Hilfseinrichtungen. Es geht darum, die körperlichen, psychischen und sozialen Schädigungen, die sich aus dem Konsum illegaler Drogen in der offenen Drogenszene ergeben können, zu lindern (Harm – Reduction) und Hilfen für das Überleben und das Bearbeiten von alltags- und drogengebrauchsbezogenen Problemen unterstützend bereitzustellen. Inzwischen haben sich vielerorts niedrigschwellige Drogenhilfezentren entwickelt, die  Drogenkonsumräume, Drogentherapeutische Ambulanzen und Kontaktläden als integrative Versorgungs- und Unterstützungsleistungen anbieten. Niedrigschwelligkeit bedeutet, dass möglichst wenig Hemmschwellen drogenkonsumierende Menschen vom Zugang und von der Nutzung unmittelbarer Hilfsangebote abschrecken bzw. ausschließen sollen. Akzeptanzorientierung umschreibt demgegenüber den inhaltlichen Arbeitsansatz, der auf Freiwilligkeit der Nutzung, Anonymität, ein niedriges Anforderungsprofil, auf Nicht-Bevormundung und auf „Hilfe Just In Time“ ausgerichtet ist. Die Nutzer von niedrigschwelligen Drogenhilfsangeboten werden als mündige, zur Selbstverantwortung fähige Menschen angesehen und so akzeptiert wie sie sind. Die Angebote im niedrigschwelligen Arbeitszusammenhang sind meist  integrativ verzahnt mit Kernbereichen einer moderierenden und entwicklungsbegleitenden Gesundheitsprävention und Schadensbegrenzung (Überlebenshilfen) und mit direkt angeschlossenen Modulen der Weitervermittlung in entsprechende Versorgungssysteme ambulanter und stationärer Hilfen, also auf das Nebeneinander/Ineinandergreifen differenzierter Begleitungs-/Betreuungsaktivitäten. Im aktuellen Aktionsplan Drogen und Sucht des Bundesministeriums für Gesundheit und soziale Sicherung sind inzwischen Überlebenshilfen durch niedrigschwellige Unterstützungsmaßnahmen als vierte Säule der Sucht- und Drogenpolitik festgeschrieben worden.

Nationale und internationale Forschungsergebnisse zu den Auswirkungen niedrigschwelliger, akzeptanzorientierter Drogenarbeit zeigen, dass nicht ausschließlich abstinenzbezogene Angebote im Sinne von schadensbegrenzenden, risikominimierenden Unterstützungsmöglichkeiten und Überlebenshilfen wesentlich dazu beitragen, drogengebrauchende Menschen direkt zu erreichen, Selbsthilfeorganisationsressourcen zu fördern, Safer-Use-Strategien selbstpräventiv zu stärken, ergänzende, verbindliche Hilfen wie Substitutions-, Entzugsplatz- und ambulante Betreuungs- sowie stationäre Therapiezugänge zu vermitteln sowie Problemmassierungen in der Öffentlichkeit wie offenes Konsumgeschehen, Spritzenfunde,  Szeneansammlungen zu minimieren. Somit werden langfristig enorme  gesundheitliche, soziale und finanzielle Folgekosten „eingespart“.

Hinsichtlich der Umsetzung niedrigschwelliger, akzeptanzorientierter Drogenhilfe sind weitere qualitative Orientierungsstandards  bedeutsam:

  • Akzeptanz des Rechts auf Autonomie mit und ohne Drogengebrauch;
  • Wahrung und Schutz der Menschenwürde;
  • Gelassenheit gegenüber der dynamischen und auch diskontinuierlichen Entwicklungsmöglichkeit auch bei zwanghaft und exzessiv Gebrauchenden;
  • Verzicht auf den helfenden Appell zur sofortigen Verhaltensänderung und auf übermäßige Strukturierung des Kontaktverlaufes;
  • Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts von Drogengebrauchenden bezüglich Intensität, Richtungsverlauf und Verbindlichkeit der Kontakte;
  • Akzeptanz von Drogengebrauchenden als Subjekte ihrer eigenen Entwicklung;
  • Fachliche Herstellung eines ausgeglichenen Verhältnisses zwischen Nähe und Distanz sowie Verzicht auf helferische Verantwortungsübernahme;
  • Fachliches Verständnis der bipolaren Berufsrolle (Kontrolle/Vertrauen);

Folgende Ziel- und Leistungskriterien einer niedrigschwelligen, akzeptanzorientierten Drogenhilfe lassen sich auflisten:

  • Überleben sichern
  • Gesundheitliche Stabilisierung
  • Verhinderung sozialer Desintegration
  • Psychosoziale Stabilisierung
  • Vermeidung dysfunktionaler Gebrauchsmuster und Minimierung des Infektionsrisikos beim intravenösen Drogengebrauch
  • Vermittlung von Techniken des Safer Use
  • Unterstützung individueller Herauslösung aus der Drogenszene und aus individuellen Abhängigkeitsstrukturen
  • Vermittlung direkter intermittierender Unterstützungen (Beratung, Betreuung, Versorgung) und in weiterführende ambulante und/oder stationäre suchttherapeutische Hilfen
  • Reduzierung der Belastung der Öffentlichkeit durch konsumbezogene Verhaltensweisen (Spritzenfunde, öffentliches Konsumgeschehen)

Integrative Angebotspalette:

  • Aufenthalts- und Treffmöglichkeiten
  • Spritzentausch, Spritzenvergabe und Vergabe anderer Gebrauchsutensilien
  • Ernährung: Essen und Getränke
  • Hygiene: Wäsche waschen und trocknen, Wasch-, Dusch- und Rasiermöglichkeiten
  • Medizinische Akutversorgung (Wundbehandlung, Abszesse etc.)
  • Schuldnerberatung, Geldverwaltung
  • Unterstützung bei Problemen mit Polizei und Justiz sowie Arbeits-, Wohnungs- und Sozialamt
  • Unterstützung bei Aufnahme schulischer und beruflicher Qualifizierungsmaßnahmen
  • Hilfe bei Wohnraum- und Arbeitsplatzbeschaffung
  • Vermittlung von Notschlafstellen
  • Beratung bei Partnerschafts- und familiären Problemen
  • Hilfe zur Alltagsorganisation, Tagesstrukturierung und Freizeitgestaltung
  • Vermittlung in Entgiftung, Substitutionsbehandlung, ambulante Betreuung und stationäre Therapie, Psychotherapie
  • Psychosoziale Unterstützung Substituierter
  • Safer-Use, Safer-Sex und Safer Work-Maßnahmen sowie Infektionsprophylaxe (Hepatitis, HIV)
  • Frauenspezifische Unterstützungsmaßnahmen (Frauenfrühstück, frauenspezifische Beratung und Vermittlungen in spezielle suchttherapeutische und andere Hilfsangebote)
  • Unterstützung von Selbstorganisationsbestrebungen
  • Mobile Spritzenentsorgung
  • Krisenintervention

Die Zugangsmethode Niedrigschwelligkeit und der inhaltliche Arbeitsansatz Akzeptanz erhöht die Reichweite von Drogenhilfe. Sie orientiert sich an den vorhandenen Stärken von drogengebrauchenden Menschen in ihrem Lebensraum in einem möglichst verständigungsbezogenen Dialog. Darüber hinaus ist sie nicht als Alternative oder Konkurrenz zu abstinenzorientierten Einrichtungen konzipiert, sondern als ein zusätzliches, ergänzendes Hilfsangebot.  Niedrigschwellige, akzeptanzorientierte Drogenhilfe sichert die flexibel zu gestaltende Gleichzeitigkeit von verbindlichen und unverbindlichen Hilfe- und Unterstützungsleistungen. Dieser gesundheitspräventive, sozialraumbezogene und auf Förderung von Handlungskompetenz auch in aktuellen Drogengebrauchssituationen ausgerichtete Arbeitsansatz ist als moderierende Unterstützung angelegt. Sie  zielt auf bedürfnisbezogene Situationsadäquanz der unterschiedlichen Angebote sowie auf individuell abwägendes Ressourcenmanagement in Selbstverantwortung (Case-Management und Empowerment).

Soziale Unterstützung ist eine wichtige Ressource zur Alltagsbewältigung und zur Bewältigung schwieriger Lebenssituationen. Von besonderer Bedeutung ist hier vor allem die subjektive Überzeugung drogengebrauchender Menschen, in einem bestimmten Sozialraum anerkannt, akzeptiert und gestützt zu werden. Im Rahmen niedrigschwelliger Drogenhilfe sind folgende Formen sozialer Unterstützung relevant:

  • emotionale Unterstützung
    Stichworte: Einfühlungsvermögen, Gesprächsbereitschaft, Offenheit, Vertrauen, Verständnis, Akzeptanz, Verschwiegenheit, Distanzfähigkeit und Respekt
  • instrumentelle Unterstützung
    Stichworte: auf Wunsch sofortige Einleitung von Hilfsmaßnahmen wie Vermittlung in Entzug, Substitution oder ambulante und stationäre Therapie, weiterführende soziale Hilfen, Angebote zur Schadensminimierung, Kriseninterventionen, medizinische Hilfen
  • Unterstützung durch Information
    Stichworte: Vermittlung von Informationen zu Safer Use (z. B. zu den Gefahren des Mischkonsums oder des gemeinsamen Gebrauchs von Spritzbesteck und Zubehör), zur Risikominimierung (u.a. Infektions- und Drogenotfallprophylaxe) oder zur Substitutionsbehandlung mit Methadon oder Buprenorphin (mittels entsprechender Faltblätter und Gespräche)
  • Unterstützung der Selbstbewertung/geistige Unterstützung
    Stichworte: offene und ehrliche Kommunikation, ohne dem Gegenüber seine Verantwortung abzunehmen oder es zu klientelisieren – z. B. durch Rückmeldungen zum Verhalten der Drogengebraucher, durch Unterstützung der Selbstverantwortung und Eigenmotivation).

Es sollte durch den Aufbau diversifizierter Hilfsangebote für drogengebrauchende Menschen eine echte Wahlfreiheit zwischen den verschiedenen Hilfsangeboten geschaffen werden, und sie müssen das Recht erhalten, über den für sie geeigneten Weg mit und ohne Drogen selbst zu bestimmen. Trotz positiver Auswirkungen niedrigschwelliger, akzeptanzorientierter Drogenhilfe bleibt die Rechtssituation durch das vorherrschende Legalitätsprinzip weiterhin prekär: Es gibt inzwischen „tolerierte“ Konsumräume im Rahmen niedrigschwelliger Drogenhilfsangebote durch Änderung im Betäubungsmittelgesetz (§ 10a) und länderspezifische Rechtsverordnungen. Dies gilt aber „draußen“ und in anderen Einrichtungen wie Notschlafstellen  (§ 11) nicht mehr. Ohne gesetzliche Änderungen und Klarstellungen bleibt das geschaffene Drogenhilfesystem recht fragil und hängt entscheidend von der regional bestimmten, „guten“ Kooperation in den jeweiligen Ordnungspartnerschaften als Zusammenschlüsse von Drogenhilfe und Gesundheits-, Ordnungs- und Strafverfolgungsbehörden ab. Ferner sorgt der § 29 Abs. 1, Nr. 10 und 11 BtMG (Verschaffung und Gewährung einer Gelegenheit zum unbefugten Gebrauch) immer wieder für Verunsicherungen in niedrigschwelligen Drogenarbeitsbereichen. Notwendig wäre hier die Schaffung eindeutiger rechtlicher Rahmenbedingungen, die Rechtssicherheit für Mitarbeiter und Nutzer von Angeboten niedrigschwelliger Drogenhilfe sowie für die Strafverfolgungsbehörden gewährleisten.

Literaturhinweise:

Akzept e.V.: Leitlinien der akzeptierenden Drogenarbeit. Materialien Nr. 3. Münster 1999

Gerlach,R.: Grenzen „niedrigschwelliger“ Drogenhilfe. In: Schneider,W./Gerlach,R. (Hg.): DrogenLeben. Bilanz und Zukunftsvisionen akzeptanzorientierter Drogenhilfe und Drogenpolitik. Berlin 2004

Schneider,W.: Elendsverwaltung und Sorgenfaltenpädagogik? Zur Entwicklungsgeschichte akzeptanzorientierter Drogenarbeit. In: Wiener Zeitschrift für Suchtforschung. 1/2000, S. 13 – 18

Schneider, W.: Akzeptanzorientierte Drogenarbeit. In: Dollinger,B./Schneider,W. (Hg.): Sucht als Prozess. Sozialwissenschaftliche Perspektiven für Forschung und Praxis. Berlin 2005

Schneider,W./Gerlach,R. (Hg.): DrogenLeben. Bilanz und Zukunftsvisionen akzeptanzorientierter Drogenhilfe und Drogenpolitik. Berlin 2004

Schneider,W./Stöver,H.: Das Konzept Gesundheitsförderung. Betroffenenkompetenz nutzen – Drogenberatung entwickeln. In: Heudtlass, J. u.a. (Hg.): Risiko mindern beim Drogengebrauch. Frankfurt 2005

*© Dr. Wolfgang Schneider, März 2006. Vervielfältigung jeglicher Art, inklusive Verschickung per elektronischer Post,
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(Diese Seite wurde zuletzt überarbeitet am 10.03.2006)