Wolfgang Schneider: DROGENMYTHEN IN DROGENHILFE, DROGENFORSCHUNG UND DROGENPOLITIK

Wolfgang Schneider: DROGENMYTHEN IN DROGENHILFE, DROGENFORSCHUNG UND DROGENPOLITIK


1. Drogenmythen

Neuere Forschungsergebnisse zeigen , daß kompulsiver Drogengebrauch (zwanghafter und exzessiver Gebrauch) kein statischer Zustand ist, der einmal erreicht und nur über abstinenzorientierte, langzeittherapeutische Maßnahmen aufhebbar wäre. Die Entwicklung zum möglichen kompulsiven Gebrauch ist nicht durch vorab festlegbare, „objektive“ Diagnosekriterien (zwangsläufige Toleranzentwicklung, Selbstkontrollverlust, Wiederholungszwang, automatischer körperlicher und sozialer Verfall, psychische Störungsakkumulation, generelle Dosiserhöhungstendenz etc., vgl. die DSM-IV Kriterien zur Operationalisierung von Abhängigkeit, Dilling,H. et al., 1993) definierbar. Kompulsiver Gebrauch ist nur ein mögliches Stadium (Phase) eines unter Umständen längerfristigen, aber auch jederzeit reversiblen Prozeßverlaufes: Er impliziert zwar natürlicherweise Konsum, dies muß jedoch nicht vice versa gelten. Es gibt nicht „die“ Verlaufsform hin zu einer sog. Drogenabhängigkeit (oft ist auch paralell von Sucht, von Rauschmittelabhängigkeit, von Mißbrauch oder schädlichem Konsum die Rede), „den“ Drogenabhängigen oder gar „die“ Suchtpersönlichkeit, noch „die“ Ursachen für deren Entstehung. Bekanntlich führt kein Lebenslauf unweigerlich zum kompulsiven Gebrauch, selbst wenn er ungünstige Prognosedaten anhäuft ( vgl. Weber,G./Schneider,W., 1992/1997), d.h. auch, daß eine wie auch immer geartete präventive „Risikokalkulation“ spekulativ bleibt. Auch wenn es noch so beliebt ist, die Faszination der großen Zahl ( so und so viel Prozent steigen aus, steigen ein, werden abstinent, werden rückfällig usw.) und dubiose Erfolgsquotenermittlungen führen nicht weiter.

Der Weg in den Drogengebrauch und aus der potentiellen „Drogenabhängigkeit“ heraus stellt eine in vielerlei Hinsicht offene Entwicklung dar, d.h. er ist durch unterschiedliche, oft auch zufällige Verläufe charakterisiert, die durch ein komplexes Gefüge subjektiver und sozio-kultureller Faktoren bedingt sind ( vgl. Weber,G./Schneider,W., 1992/1997; Schneider,W., 1996). Die vereinfachende, angebliche Kausalkette als Einbahnstraße „Persönlichkeitsdefizit – Problemmassierung – Abhängigkeit – Therapie – Abstinenz“ ist kaum mehr haltbar; ein gleichförmiges, stufenbezogenes Karrieremodell hat sich als Fata Morgana erwiesen. So ist inzwischen auch für die Bundesrepublik sehr gut dokumentiert, daß es durchaus Möglichkeiten eines autonom kontrollierten, sozialintegrierten Gebrauchs illegalisierter Drogen und Selbstausstiegsprozesse ohne professionelle Behandlung und Betreuung gibt (etwa: Weber,G./Schneider,W., 1992/1997; Schmidt,T., 1996).

Trotz dieser Erkenntnisse bestimmen weiterhin Diabolisierungs- und Dramatisierungsszenarien als immerwährende Reproduktion von Drogenmythen die wissenschaftliche und öffentliche Diskussion. Mythen als symbolische Sinnwelten organisieren die „Welt der Gewißheit“ (Berger,P./Luckmann,T., 1986), suggerieren in ihrer Aussagekraft etwas Natürliches, Unhinterfragbares, dienen der Komplexitätsreduktion, der Produktion von Sündenböcken und stellen somit Orientierungen im Sinne der „Eingrenzung von Verhaltensmöglichkeiten“ (Kaulitzki,R., 1996: 84) zur Verfügung. Ein Mythos unterschlägt, „daß seine Aussage und das in dieser enthaltene Phänomen etwas sozial Gemachtes ist, und er unterschlägt auch die unterschwellige Zielsetzung dieser sozialen Konstruktion von Wirklichkeit“ (Hess,H., 1986: 28). Mythenkonstrukte als „emotionale Verdichtungssymbole“
( Edelman,M., 1976) haben die Tendenz, sich auf selbstverständlich Vorausgesetztes zu beziehen sowie dieses Wahrnehmungsmuster als richtig und zutreffend anzuerkennen. Nach Strassberg enthält ein Mythos darüber hinaus auch eine struktur- und orientierungsstiftende Nachricht: Ein Mythos ist weder eine Lüge, noch eine besondere Wahrheit, sondern „im Mythos wird eine geschichtliche Tatsache als naturgegeben und wesenhaft dargestellt“ (Strassberg,D. 1993: 126). Das gesellschaftlich-kulturelle Konstrukt Drogenabhängigkeit/Drogensucht enthält insofern eine narrative Nachricht. Hierbei ist es jedoch unwesentlich, zu fragen, ob es Drogenabhängigkeit oder Drogensucht gibt oder nicht, sondern es stellt sich die Frage, was erzählt uns der Begriff Drogenabhängigkeit, welche Nachricht vermittelt er? Es ist die Erzählung vom uralten Mythos der Autonomie des Individuums und seiner gleichzeitigen Unmöglichkeit, von Gut und Böse, von der Vernunft und der Begierde, von Freiheit und Unfreiheit (siehe Strassberg,D. 1993: 127). Das Konstrukt Drogenabhängigkeit erzählt uns weiter, daß das Subjekt von „der“ Droge in Besitz genommen (besessen) und gleichzeitig schuldig ist, von Ich-Identität und Verfremdung, Verkümmerung, Zerstörung. Das Konstrukt Drogenabhängigkeit enthält insofern immer auch eine Nachricht für die Anderen, nämlich die Nachricht des Bösen, der Verfremdung, des Außer-Sich-Seins, des Verlustes von Autonomie und Selbstkontrolle.

Denken wir an folgende Mythen:

Der völlig verwahrloste und ich-entkernte Junkie als defizitäre und angstmachende Schreckensgestalt aus einer anderen Welt;

Der willensschwache, amotivierte und flash-back geschüttelte Langzeitcannabisgebraucher;

Der gefährliche, gewissenlose und unverantwortliche Drogendealer, der die Schulhöfe bevölkert, Haschisch und Ecstasy mit Heroin und Kokain versetzt, LSD-Abziehbilder verteilt und Kokain und Ecstasy in die Cola mischt. Dieses Verbrechen erscheint als das moralisch zu verurteilende „Böse“ schlechthin, seine strafrechtliche Bekämpfung stets als das „Gute“. Oder anders ausgedrückt: “ Aus einer empirischen wird eine symbolische Gestalt, die als ganze das Böse repräsentiert. Die Person verdichtet sich zur Totalität der Bestie“ (Strasser,M., zitiert nach: Schetsche,M., 1996: 95).

Von besonderer Bedeutung ist jedoch der Mythos von „Drogenabhängigkeit“ als eine rein pharmakologisch und psychiatrisch bedingte, generell behandlungsbedürftige Krankheit. Gebraucher illegalisierter Drogen werden gemeinhin als Menschen dargestellt, die permanent und hochgradig an Drogen „hängen“, frühkindlich geschädigt, schwer krank, erheblich kriminell vorbelastet sind und keine eigenständige Lebensgestaltung mehr zustande bringen. Ihnen wird verallgemeinernd eine eingeschränkte Handlungsfähigkeit unterstellt, die einerseits aus der angeblich zwangsläufigen „Abhängigkeit“, aus der Macht der Drogen und andererseits auch aus ihren psychischen Prädispositionen resultieren soll . Hier greift denn auch der Mythos vom biographiebestimmten Trauma der frühen Kindheit. Die gängigen Interpretationsfolien vom defizitären und tief beschädigten Leben „des“ Drogenabhängigen sind allein „in den Begriffen von Mangel und Unfertigkeit“ (Herriger,N.,1997: 67), von frühkindlichen Beschädigungen und genereller Ich-Schwäche ausbuchstabiert. In der Drogenhilfe dominiert denn auch weiterhin die „berufliche Fürsorglichkeit“ gestützt auf der Annahme, daß „Klienten zu Klienten werden, weil sie Träger von Defiziten, Problemen, Pathologien und Krankheiten sind, daß sie – in kritischem Maße – beschädigt oder schwach sind“ (Herriger,N.,1997: 68). Diese Interpretationsfolien legen den Hilfenachfragenden allein auf Kategorien des Versagens, des Mißlingens, der Nicht-Normalität fest; letztendlich begibt sich der Angebotsnutzer, will er denn die institutionelle Interaktion nicht scheitern lassen, „in das Gehäuse der Experten-Interpretation“ (Herriger,N., 1997: 69) und übernimmt die angebotenen Wahrnehmungs- und Deutungsweisen (Selbststigmatisierung). Dieses dahinterstehende, eindimensionale Krankheitsbild folgt einem spezifischen Verlauf, der – wie im „normalen“ Krankheitsmodell – direkt, sozial und gesundheitlich abwärts gerichtet ist. Das lineare, monokausale Abhängigkeitsmodell wird inzwischen auch auf stoffungebundene „Süchte“ übertragen. Jeden Tag wird eine andere Sucht entdeckt, die selbstverständlich therapeutisch bearbeitet werden muß. Der gegenwärtige Höhepunkt ist die Entdeckung der sog. „Schüttelsucht“, d.h. das unwiderstehliche Verlangen, Überraschungseier zu schütteln. Erste Selbsthilfegruppen sind bereits entstanden. Mit Spode,H., (1993) kann festgehalten werden, daß es zu den Strukturmerkmalen dieses Abhängigkeits- und/oder Suchtbegriffs gehört, „unerwünschtes Verhalten beliebig pathologisieren zu können“ (Spode,H.,1993: 273). Die gesellschaftliche Bedrohung durch einen angeblich unverantwortlichen Umgang mit dem Leben („leidenschaftliche Unvernunft“) ist allgegenwärtig: „Ein unerschöpfliches Reservoir an Therapiebedürftigkeit“ (Ebd.: 274).

Von einer „Entzauberung“ dieser bis heute herrschenden Drogenmythen kann keine Rede sein, es gesellen sich zudem immer wieder neue Mythen hinzu. Der gesellschaftliche Drogenkult als Mythen(re)produktion, gespeist aus Drogenangst, Bedrohlichkeitsempfinden und Fehlinformation, bestimmt – von wenigen Ausnahmen abgesehen – die Öffentlichkeit sowie die Medien- und Drogenforschungslandschaft. Wenn schon bisher die These von Cannabis als Einstiegs- und Umstiegsdroge wissenschaftlich nicht erklärt werden konnte (dieser Wahrnehmungskokon beginnt sich langsam aufzulösen), dann ist es nun plötzlich Ecstasy.

Ausnahmeerscheinungen werden wie gehabt als Kausalitäten dargestellt. Ferner feiert die Verjüngungsthese fröhliche Urständ. Die Aussage, insbesondere Ecstasygebraucher werden immer jünger, ist genauso richtig wie die Wahrnehmung, daß die Studierenden in der Bundesrepublik immer jünger werden; sie sehen halt aus dem Blickwinkel von uns Älteren jung aus. Zudem werden Life-Time-Prävalenzen
(Drogenkonsum jemals im Lebenszeitraum) beim illegalen Drogengebrauch kontinuierlich mediengerecht als gewohnheitsmäßiger Mißbrauch verkauft. Ferner häufen sich in jüngster Zeit wieder die gesellschaftlichen Zuschreibungen von drogengebrauchenden Jugendlichen als soziale „Problemjugendliche“. Nur diesmal ist nicht die Hippiebewegung gemeint, sondern die ecstasygeschwängerten Wirkungszusammenhänge von Droge, Sound und Lightshow. Wiederum zeigt sich – und da wiederholt sich die Geschichte – , daß spezifische Ausdrucks- und Verhaltensweisen drogengebrauchender Jugendlicher, die medienwirksam aufgebrüht als spektakulär und vor allen Dingen als brisant, (vermeintlich) fremd und angsterzeugend erscheinen, gleichsam dem „Terror der Aktualität“ (Amery) und der Einschaltquotenerhöhungsverpflichtung unterliegen. Diese moralin-saueren Medieninszenierungen haben aber nun keineswegs abschreckende Wirkungen. Jede Publikation, jeder filmische Beitrag, jeder jugendschützerische Abschreckungsversuch unterstreicht die Attraktivität des dargestellten,“normwidrigen“ Verhaltens: Sie wirken als negative Propaganda. Vergegenwärtigen wir uns: Im Rahmen eines gesellschaftlichen Problemdefinitionsprozesses beginnen sog. moralische Unternehmer aufgrund der Wahrnehmung fremder Verhaltensweisen bestimmte Sachverhalte zu behaupten, diese als unerwünscht bzw. gefährlich für die „Volksgesundheit“ zu thematisieren und dies zu einem öffentlichen Thema zu machen. Weil sie als „Probleme wahrgenommen werden“, bedürfen sie zu ihrer Entstehung „der Problematisierung“ (Scheerer,S., 1993: 79). Bei der nun folgenden Produktion und Vermittlung von Problemdefinitionen spielen die Medien und insbesondere auch „die“ Wissenschaft eine nicht zu unterschätzende Rolle. Nach und nach dringen diese Definitionen in das öffentliche Bewußtsein und die immer neue „Entdeckung“ von problematischen, sprich unerwünschten Verhaltensweisen führt zu einer zunehmenden „Klientelisierung“ großer Teile der Bevölkerung. Damit ist denn auch der Boden für eine wachsende Ausgrenzung von Randgruppen bereitet. Hieran schließt sich die Phase der Legitimation des „sozialen Problems“ durch amtliche Organe, Behörden oder Institutionen an. Erste Forschungsgelder werden bewilligt und Sonderforschungsbereiche eingerichtet. Es folgt, wie Hornstein dies ausdrückt, die „Schaffung sekundärer Institutionen der Problemverarbeitung und -lösung“ (Hornstein,W., 1979: 685), d.h. es geht um die Entwicklung und Etablierung strategischer, qualitätssichernder Maßnahmen von Problembehandlungen, von Auffangvorrichtungen für besonders problematische Fälle und von Verschärfungen sozialer Auslesekriterien( u.a. beispielsweise weitere Substanzverbote bei sog. Designerdrogen oder natürliche Drogen wie psilocybinhaltige Pilze, Peyotekaktus, bufoteninhaltigen Froschschenkeln (die geleckt, angeblich ins „Nirwana“ führen) oder gar die Einfuhr von Khatblättern; ganz zu schweigen vom widersinnigen Hanfsamenverbot, sofern der Samen zum „unerlaubten Anbau“ bestimmt ist: siehe die 10. Verordnung zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher Vorschriften vom 1.2.1998) sowie um die Legitimation dieser Verschärfungen. Zur Zeit geben sich darüber hinaus „Drogenwellen“ in den Medien geradezu die Türklinke in die Hand: von der Kokain- zur Crackwelle, von der Ecstasy- zur Pilzwelle, von der Ketaminwelle zur Heroin- und Amphetaminwelle, über die Cannabiswelle zurück zur „Dauerwelle“. In der Tat: Immer wieder werden Drogenwellen gesichtet, Gefahrenherde ausgemacht, die tollsten Drogengebrauchskombinationen vermutet und aus Schmankerln, die in der jeweiligen Gebrauchsszene dem staunenden Sozialforscher hinter vorgehaltener Hand erzählt werden, hitverdächtige Trends abgeleitet. Der Zyklus der Entstehung einer „neuen“ Szene über ihre Diffusion und massenmediale Vermarktung bis hin zu ihrer schließlichen „Inkorporation“ durch kulturelle und kommerzielle Träger ist zur Zeit besonders deutlich bei der Techno- und Raveszene zu beobachten. Die Wiederkehr des immer gleichen in der Drogenpolitik ist vollendet: Mythenbildung, Dammbruch- und Einbahnstrassenszenarien, Dramatisierung, Kommerzialisierung, Pathologisierung, Therapeutisierung.

Wie die „Problemkarriere“ des illegalen Drogengebrauchs zeigt, stellt die Erfolglosigkeit von Strafe als sozialtechnologisches Steuerungsmittel die
(angebliche) Gültigkeit der Drogenmythen nicht in Frage. Das kann damit zu tun haben, daß von Anfang an nicht die „Problem“-Minimierung oder gar die Entwicklung von Teillösungsaspekten im drogenpolitischen Interesse standen, sondern die Aufrechterhaltung der Drogenmythen selbst. Die Institutionalisierung einer Drogenbekämpfungsadministration wie eines abstinenzorientierten Drogenhilfeverbundsystems in Verquickung mit den (veröffentlichten) Diskursstrategien des Moralisierens, Pathologisierens und des Dramatisierens hatte und hat die soziale Normierung der Drogenmythenbildung zum Ziel: Die herrschenden Wahrnehmungsfolien werden somit beständig reproduziert. Dabei erhalten diese Strategien wohlwollende Unterstützung: Die öffentliche und wissenschaftliche Drameninszenierung der Drogenproblematik hat “ dann zwar viele Regisseure, aber eine einfache Dramaturgie. Sie geht von der Trennung zwischen Experten und Laien“ (Giessen,B., 1983: 235) aus. Betroffene werden meist von der Mitwirkung (außer als „Probanden“ oder Fallbeispiele) ausgeschlossen.

Dabei hätte gerade „die“ Wissenschaft die “ aufklärerische Rolle des Tabu-Brechers“ (Luedtke,J., 1996: 212) im Sinne einer Entmythifizierung bzw. Entmystifizierung illegalisierter Drogen zu übernehmen. Doch: Daß was empirisch erfaßt und dann theoretisch begründet wird, ist meist lediglich das, “ was aufgrund des alltagstheoretischen Problemmusters ohnehin schon bekannt ist und be-kannt wird“ (Schetsche,M., 1996: 163). So z.B. wenn in einer neueren Ecstasystudie die unglaublich heuristische (erkenntnisfördernde) Schlußfolgerung gezogen wird: “ Der von den Medien immer wieder beschriebene enge Zusammenhang zwischen Ecstasykonsum und der Partizipation an spezifischen Musik- bzw. Tanzveranstaltungen scheint durch die hier vorliegende Infoline-Ergebnisse bestätigt“ (Tossmann,B., 1997: 124). Bei einigen Forschungsfragen hat man zudem den Eindruck, diese seien genauso wichtig wie die „Forschungsfrage“, ob nun das Licht im Kühlschrank tatsächlich ausgeht, wenn man ihn zumacht. Manche „Forscherlobby“ versteigt sich gar zu der (unglaublichen) Feststellung: „Um so weniger Forschung in einem Land betrieben werde, desto höher sei der Konsum von Suchtmitteln“
(Jahrestagung der deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie 1998; Westfälische Nachrichten vom 14.3.98).

Wie dem auch sei, die dominierende (und zum Teil auch wissenschaftlich “ abgesicherte“) ausschließlich pathologisierende und problemzentrierte Blickrichtung zur Erklärung von „Drogenabhängigkeit“ begründete die Definition von Gebrauchern illegalisierter Drogen als generell behandlungsbedürftige Klienten, für deren Behandlung und Rehabilitation sich eine Vielzahl von „Reparaturexperten“ als zuständig betrachtete. Dies jedoch – und das sei hier ausdrücklich vermerkt – ohne ein entsprechendes „Klientenmandat“, obwohl die Behandlungspflicht beispielsweise in der Medizin aus dem Behandlungsauftrag des „Patienten“ erfolgt. Als vielleicht überspitzte These formuliert: Unzählige Personen und Institutionen (also auch wir) profitieren von der Dramaturgie der Sucht und der Aufrechterhaltung der Drogenmythen. Dabei wird selbstverständlich nicht geleugnet, daß es Menschen gibt, die unter der Verstrickung in kompulsive Gebrauchsformen und den daraus bedingten psychischen Störungen leiden oder selbstmedikativ Drogen einsetzen und insofern kompetente Hilfe benötigen.

Die generelle Pathologisierung von Gebrauchern illegalisierter Drogen und die Etikettierung derselben als kriminell (Behandlung/Bestrafung) sichert jedoch die normative und damit öffentlichkeitswirksame „Drogenordnung“ durch den Einsatz legitimierter Zwangsmittel. Es ist nämlich so: Sobald ein Drogengebraucher auffällige Verhaltensweisen zeigt, bzw. diese als auffällig wahrgenommen werden, beginnt – ganz im Sinne des linear-kausalen Denkens – die „Fahndung“ nach dem Täter. Entweder derjenige, der dieses als abweichend definierte Verhalten demonstriert, ist selbst der Schuldige. Oder aber diejenigen, die ihn dazu „gemacht“ haben, werden als Schuldige erklärt (Gene, Eltern, Verführer, Umfeldbedingungen oder gar „die“ Gesellschaft). Insofern ist der Betroffene ein Opfer. Somit muß er dann gerettet, aus den Klauen der Droge befreit werden. Folge dieses linear-kausalen Denkens ist, daß immer einer der Schuldige, und einer das Opfer ist. Weiterhin ist es nun möglich, das Konstrukt „Krankheit“ anzuwenden. Mit dem Etikett „krank“ ist nun ein unmittelbar Schuldiger ausgeklammert. Der Kranke ist nur noch passives Opfer. Krankheit (hier: Drogenabhängigkeit) ist dann der Täter, der Gegner, dessen Bekämpfung alle vereinen und alle von Schuld freisprechen kann. Die zunehmende Medizinalisierung und Psychiatrisierung des „Drogenproblems“ fördert nun – ob gewollt oder nicht – diese verallgemeinernde Pathologisierung von Gebrauchern illegalisierter Substanzen und macht sie – wider besseres Wissen – zu unmündigen Behandlungsobjekten. Kompulsive Drogengebraucher werden denn auch zunehmend als chronisch, mehrfach geschädigte, co-morbide Abhängigkeitskranke „bezeichnet“ ( früher auch extrem problematische Drogenabhängige – EPD – genannt). Bestes Beispiel ist hier die sog. Methadonexpertise des Institutes für Therapieforschung (Bühringer/Künzel/Spies 1995). Ein Mitspracherecht bei der Methadonsubstitution für die „Betroffenen“ wird mit keiner Silbe in der ganzen Expertise erwähnt: Wo kämen wir da auch hin, die „Patienten“ selbst in die Behandlung einzubeziehen?! Sie sind ja ein schwieriges „Klientel“: „sie tricksen, sie lügen, sie wehren sich, sie sind nicht einsichtig“(Herwig-Lempp,J., 1994: 107). Ein weiteres Indiz für die schleichende Medizinalisierung des Drogenhilfesystems ist die geplante Einrichtung von sog. „Drogentherapeutischen Ambulanzen“ in NRW. Im Gesamtkontext der Aufgabenschwerpunkte soll es – nach „medizinischer Indikation“ – eine „einzelfallbezogene“ Konsummöglichkeit für „schwerstabhängige Drogenkranke“ geben. Neben einer psychologisch orientierten Therapiemotivationstestung wird das Gesamtkonzept der „Drogentherapeutischen Ambulanzen“ unter ärztlicher Verantwortung gestellt. „Es gelten die Regeln für medizinische und therapeutische Einrichtungen“(Projektbeschreibung, März 1998: 4). Die Masse der Konsumenten, die noch nicht den indikativen Status „schwerstabhängige Drogenkranke“ erreicht haben, bleiben wie gehabt „draußen vor der Tür“.


2. Grundlagen und Zielsetzungen akzeptanzorientierter Drogenarbeit

Nachdem wir die Konsistenz der herrschenden Drogenmythen beschrieben haben, wollen wir uns nun den Grundlagen und Zielsetzungen einer akzeptanzorientierten Drogenarbeit zuwenden.

Eine akzeptanzorientierte Drogenhilfe basiert auf völlig anderen Prämissen als die traditionelle, rein abstinenzbezogene Drogenarbeit. Das abstrakte Heilungsideal und Cleanpostulat des Abstinenzparadigmas, Therapiemotivationsarbeit, Leidensdrucktheorie (nur wer ganz unten ist, ist auch bereit, auszusteigen), Klientelisierung (Unterstellung von genereller Behandlungsbedürftigkeit), Defizittheorie (Drogengebraucher als frühkindlich bedingte, kranke Störungsbündel) und der sogenannte „helfende Zwang“, die bis Mitte der achtziger Jahre das Erscheinungsbild von Drogenarbeit prägten, gehören nicht zu den konzeptuellen Grundlagen einer akzeptanzorientierten Drogenarbeit (siehe zusammenfassend: Gerlach,R./Engemann,S., 1995). Anders dagegen der Bundesfachausschuß Innenpolitik der CDU, der in seinen Leitlinien für eine Anti-Drogen-Politik der Zukunft fordert:“…,in Einzelfallabwägung eine richterliche Einweisung von schwer Drogenabhängigen (sic?) in eine stationäre Therapie anzuordnen“ (Leitlinien S.5; Einfügung vom Verfasser).

Grundlage akzeptanzorientierter Drogenarbeit ist es hingegen, Drogengebraucher als mündige, zur Selbstverantwortung und Selbstbestimmung fähige Menschen anzusehen. Auch wenn oftmals diese Fähigkeit aufgrund illegaler Konsumbedingungen, sozialer Bedingtheiten, hochfrequenter Gebrauchsformen und individueller Dispositionen nicht mehr vorhanden ist, haben sie immer ein Recht auf Selbstbestimmung und auf eine menschenwürdige Behandlung. Ohne einem „voraussetzungslosen Individuum“ (Degkwitz,P.,1997: 17) das Wort zu reden oder gar der Illusion des freien Willens anheimzufallen, stigmatisiert jedoch die zunehmende Etikettierung als „schwerstabhängige Drogenkranke“ die betroffenen Menschen gleich als zweifache Opfer: schwerst abhängig und drogenkrank. Hier greift denn auch der „Alles-oder-Nichts-Mythos“, wonach „Drogenabhängige“ sich von „Nichtdrogenabhängigen“ qualitativ unterscheiden: Entweder man ist drogenabhängig oder nicht, man kann nicht „ein bißchen drogenabhängig“ sein ( auch: Herwig-Lempp,J., 1994, S.42).

Eine bedürfnisorientierte Drogenhilfe basiert nun auf Freiwilligkeit und ist nicht bevormundend ausgerichtet. Drogengebraucher werden so akzeptiert , wie sie sind. Auf feste Terminvereinbarungen, Cleanstatus und der demonstrativen Darstellung einer Abstinenzmotivation als Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Angeboten und Hilfestellungen wird verzichtet. Dies hat nun nichts mit Laissez-Faire zu tun, sondern setzt zwischenmenschlich notwendige Grenzen jenseits einer idealistischen Betrachtungsweise des „Suchtphänomens“. Der sich inzwischen eingebürgerte und leider inflationär verwandte Begriff der Niedrigschwelligkeit bedeutet dabei, daß möglichst wenig Hemmschwellen Drogengebraucher von der Benutzung von Hilfsangeboten abschrecken bzw. ausschließen sollen. Insofern ist Niedrigschwelligkeit nur ein methodischer Ansatz, der nicht notwendigerweise eine Abkehr vom Abstinenzparadigma beinhalten muß.

Nationale wie internationale Forschungsergebnisse zu den Auswirkungen niedrigschwelliger Drogenarbeit verdeutlichen, daß nicht abstinenzbezogene Angebote im Sinne von schadensbegrenzenden Unterstützungsmöglichkeiten und Überlebenshilfen in der Lage sind, drogengebrauchende Mitbürger direkt anzusprechen, Selbsthilfeorganisationsressourcen zu fördern, Safer-Use-Strategien zu stärken und – auf Wunsch – ergänzende, verbindliche Hilfen wie Substitutions-, Entzugsplatz- und ambulante oder stationäre Therapievermittlungen anzubieten.

An die Umsetzung akzeptanzorientierter Drogenarbeit sind jedoch mehrere inhaltliche Voraussetzungen gebunden:

1. Anerkennung der Ambivalenz einer jeden Droge, d.h. Anerkennung der Tatsache, daß jede Droge ihre positive und negativ-schädliche Seite hat (Relativierung von Drogenmythen);

2. Gelassenheit gegenüber der dynamischen und auch diskontinuierlichen Entwicklungsmöglichkeit auch bei zwanghaft und exzessiv Gebrauchenden;

3. Verzicht auf den Appell zur sofortigen Verhaltensänderung und auf übermäßige Strukturierung des Kontaktverlaufes;

4. Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts von Drogengebrauchenden bezüglich Intensität, Richtungsverlauf und Verbindlichkeit der Kontakte;

5. Aufhebung der Degradierung von Drogengebrauchern als reine Objekte klinisch-kurativer Strategien der Persönlichkeitsumwandlung (Verzicht auf eine methodisch gestützte, infantilisierende und durch die Metapher des Defizits begründete Klientelisierung und Unterstellung genereller Behandlungsbedürftigkeit);

6. Akzeptanz des drogenbezogenen Lebensstils, jedoch keine „Verbrüderungen“ und Überidentifikationen mit drogengebrauchenden Menschen sowie ein Nicht-Einlassen auf dramatisierende, mitleidserheischende Selbstdarstellungen;

7. Verzicht auf Instrumentalisierung und Vermeidung eines sozialpädagogischen Opportunismus durch Herstellung eines ausgeglichenen Verhältnisses zwischen Nähe und Distanz.

Die Zugangsmethode „Niedrigschwelligkeit“ und der inhaltliche Arbeitsansatz Akzeptanz erhöht also insgesamt die Reichweite von Drogenhilfe. Da dieser Arbeitsansatz jedoch von grundsätzlich anderen subjekt- und drogentheoretischen Prämissen und Zielsetzungen ausgeht als die traditionelle hochschwellige und abstinenzfixierte Drogenarbeit und die Drogenverbotspolitik, ist akzeptanzorientierte Drogenhilfe niemals nur Ergänzung der Angebotspalette von klassischer Drogenarbeit, sondern versucht, die herrschenden Drogenmythen zu „entzaubern“ und mit ihren Ideen und Ansätzen auch drogenpolitische Veränderungen jenseits reiner Elendsverwaltung und Sozialkosmetik einzuleiten. Dazu gehört auch die immerwährende Auseinandersetzung mit Vorurteilen wie akzeptanzorientierte Drogenarbeit wäre suchterhaltende Beihilfe zum Drogenkonsum, zur Selbstvergiftung. So heißt es beispielsweise in einem aktuellen CDU-Papier zur Drogenpolitik: „Die CDU hält konsequent am Ziel eines suchtfreien Lebens fest…Hingegen wollen SPD und Grüne den Drogenkonsum als unvermeidlich hinnehmen und durch eine Liberalisierung den Zugang zu Drogen erleichtern“ (Leitlinien S.2). Na denn Prost allerseits!

„München – Schwerste Exzesse von voraussichtlich mehr als sechs Millionen Drogengebrauchern wurden beim sogenannten Oktoberfest in München registriert. 16 Tage und Nächte lang traf sich auf der Theresienwiese eine internationale Drogenszene zur weltweit größten Orgie mit Suchtmitteln. Die Polizei stellte täglich Zehntausende von berauschten Probierern und Dauerkonsumenten aller Altersstufen fest. Die Rettungsdienste hielten rund um die Uhr ein massives Aufgebot an Hilfskräften in Bereitschaft. Allein das Bayerische Rote Kreuz hatte nach Auskunft von Sprecherin Helge Walz 73 Ärzte und 831 Sanitäter und Schwestern im Einsatz. In den Kliniken stehen Notfallbetten zur Behandlung akuter Intoxikationen, rauschbedingter Psychosen und Verletzungen bereit. Chillout-Räume mit „Ausnüchterungsliegen“ wurden beim „Schottenhammelzelt“ auf dem Festgelände eingerichtet. Als Location dienten vorübergehend installierte Zelte, in denen das Rauschgift aufgenommen wurde. Zur Applikation wurden gläserne Rundbehältnisse benutzt, die exakt 1.000 Kubikzentimeter Flüssigkeit fassen – „Maß“ genannt. In ihnen befindet sich das Rauschmittel: ein durch Vergärung von Gerste entstandenes, leicht bitter bis süßlich schmeckendes Substanzgemisch mit durchschnittlich 3,5 bis 6 Prozent Alkohol, dem pharmakologischen Hauptwirkstoff. Die Drogenaufnahme wird meistens von dröhnenden Blechinstrumenten und Schlagwerken begleitet. Eigens von Rauschgiftherstellern – Brauereien genannt – engagierte Vorsänger stacheln den Konsum an: „Oans,zwoa,gsuffa!“. Auf Kommando werden die Glasbehältnisse kollektiv zum Mund geführt und die Drogen oral eingenommen. Abgestellte Eichwächter des staatlichen Ordnungsamts achten darauf, daß die Drogengebraucher nicht durch Dealer „gelinkt“ werden. Stichprobenartig kontrollieren sie, ob sich in den Behältnissen die bezahlte Menge an Drogen befindet, und gewährleisten so eine standardisierte, qualitätsgesicherte Rauschtiefe. Die Beschaffungskriminalität ist groß: 490 Diebstähle und 22 Fälle von Raub wurden in den letzten beiden Jahren aktenkundig. Die von der bayerischen Landesregierung geförderte Massenintoxikation endete am Sonntag, 5.Oktober um 23.30 Uhr“ (in leichter Abänderung nach: Kriener,K./Saller,P.; TAZ vom 20.9.97). Oder wie es Bundeskanzler Helmut Kohl ausdrückt: „Unser Ziel muß eine Gesellschaft sein, die den Rausch einmal genauso ächtet, wie den Kannibalismus“ (zitiert nach: Baumgärtner,T., 1997: 9).


3.Fazit

Eine wirklich „akzeptierende“ Drogenarbeit und Drogenpolitik mit dem Ziel einer weitgehenden „Normalisierung“ der Lebens- und Konsumbedingungen von drogengebrauchenden Menschen wird aber erst dann gelingen, wenn die repressive Drogenverbotspolitik aufgehoben ist und die herrschenden Drogenmythen „entzaubert“ sind. Hier wird Normalisierung nicht als eine kontrollorientierte Gleichschaltungsstrategie im Sinne der Ermöglichung und Förderung einer selbstsicheren, standfesten und handlungskompetenten Erhöhung der Einschaltquoten und der kommunikationsfähigen Unterzeichnung von Bausparverträgen, als ein moderner, ordnungsbezogener Rasenmäher (quadratisch, praktisch, gut) verstanden, sondern Normalisierung meint die Anerkennung der (auch genußbezogenen) Selbstgestaltung des Lebens mit und ohne Drogen. Seien wir ehrlich: „Das Drogenverbot ist auch eine riesige Arbeitsbeschaffungsmaßnahme“ (Gersemann,O., 1997: 186).

Abschließend möchte ich zu bedenken geben: Alle „Drogendienstleistungsunternehmen“ (von der Methadonsubstitution über Konsumräume bis hin zur Orginalstoffvergabe) verdanken ihre Existenz auch der sozialen (gesellschaftlichen) Konstruktion und Konstitution der Dramaturgie „des Drogenproblems“, der Klientelisierung und Pathologisierung der Konsumenten und ordnungspolitischer Gegebenheiten (unsere Stadt soll schöner werden). Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Ich bejahe aus humanitären Gründen ausdrücklich den Einsatz von Methadon oder anderen Substitutionsmitteln, Konsumräume zur hygienisch-kontrollierten Applikation von Drogen, die Pilotprojekte zur kontrollierten Orginalstoffvergabe (wiewohl hier eine Zwei-Klassen-Sucht etabliert wird) und einen pragmatischen Umgang auch mit ordnungspolitischen Notwendigkeiten. Ich sehe jedoch die Gefahr einer unheiligen, kontrollorientierten Allianz zwischen Psychiatrie, Allgemeinmedizin und Ordnungs- und Finanzpolitik (die fiskalisch begründete Qualitätssicherungsdebatte wäre hier nur ein aktuelles Thema, vgl. Schneider,W., 1997b). Die bedingungslose Hinwendung zum Krankheitsparadigma offenbart sich bei der staatlich kontrollierten Orginalstoffvergabe überaus deutlich: Unter höchst selektiven Bedingungen (Nachweis schwerer, finaler Krankheitszustände, Erfolglosigkeit anderer Behandlungsmethoden, Zwang zur Teilnahme an psycho-sozialen Begleitbetreuungen etc.) wird der ausgewählte „Schwerstabhängige“ „zum staatlich registrierten und kontrollierten Kranken“ (Schmidt-Semisch,H., 1994: 6), wobei diejenigen, die nicht als „Schwerstabhängige“ definiert worden sind, erst „schwerstabhängig“ werden müssen, um in den „Genuß“ der Orginalstoffvergabe zu kommen. Ich befürchte durch die definitorisch-standardisierte Festschreibung des Konstruktes „Drogenabhängigkeit ist Krankheit“ eine weitere Entmündigung und Klientelisierung der drogengebrauchenden Menschen, eine Negierung des auch selbstverantwortlichen, genußorientierten Umgangs mit illegalisierten Substanzen und die – politisch gewollte, weil international angeblich nicht durchsetzbare – Aufrechterhaltung und damit Verewigung der Substanzillegalität. Auch „die“ akzeptanzorientierte Drogenarbeit läuft Gefahr, ein geschlossenes, „zweites“, nur schadenbegrenzendes, soziales System zu werden. Dies bedeutet, daß sich die „akzeptierenden Akteure“ beständig in ihrer aktuellen Drogenhilfepraxis – fokussiert auf nur Harm-Reduction und Bestandserhaltung – und Drogenpolitikauffassung affirmativ selbst bestätigen, ohne über den Tellerrand dieser neuen Gewohnheit und der „BAT IIa – Mentalität“ zu blicken. Aber Vorsicht: „Dieser reziproken positiven Konditionierung“ (Baratta,A.,1990: 4) entzieht sich wie gehabt eine Gruppe, nämlich die der Drogengebrauchenden. Passen wir auf, daß wir nicht selbst „moralische Unternehmer“ werden, die Konstruktionen als real definieren: Die Konsequenzen wären dann auch real.

In zahllosen Seminaren, Fachtagungen und karrieregünstigen Kongressen werden genormte Schablonen, Potemkin`sche Dörfer errichtet, Probleme zum x`ten Mal neu definiert und Verbalakrobatik betrieben, ohne daß sich an der Situation von Drogengebrauchenden etwas Grundlegendes ändert, außer daß man vielleicht wieder einen neuen Drogentyp oder eine neue Drogenwelle entdeckt hat. Dringender denn je ist es notwendig, „akzeptierende“, auch visionäre Drogenpolitik zu betreiben, d.h. es geht letztendlich um die Aufhebung der repressiv-paternalistischen Drogenverbotspolitik, moralistischer Drogenhilfe und um die Entzauberung der herrschenden Drogenmythen. Eine Aufhebung der Drogenverbotspolitik impliziert sicherlich keine „Lösung“ des Mißbrauchs- und kompulsiven Gebrauchsproblems, ist kein patentrezeptbewegter Königsweg. Aber Drogen würden so jenen unter qualitätskontrollierten Bedingungen verfügbar gemacht, die sie so oder so konsumieren und die sie sich unter den heutigen illegalen Bedingungen verschaffen, “ koste es was es wolle, nämlich die Gesundheit und oft genug das Leben“ (Bossong,H., 1991: 7).

Der idealistische Traum von einer „drogenfreien“ Gesellschaft ist zwar legitim, jedoch illusorisch und zudem gefährlich: „Die Mission für eine suchtfreie Gesellschaft ist der sicherste Weg zur absoluten Bevormundung“ (Wolf,J.C. 1992: 555).

“ Nicht Markt oder Prohibition, nicht Verführung oder Verbot heißt deshalb für mich der Weg, sondern Drogenbildung und Drogenkultur. Wir können Drogenkultur nicht einfach machen, aber wir können sie fördern, oder wenigstens nicht behindern“ (Marzahn,C., 1991: 130).


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