Ralf Gerlach: Gibt es „schwerstabhängige“ Methadonpatienten oder werden sie „gemacht“?

Ralf Gerlach: Gibt es „schwerstabhängige“ Methadonpatienten oder werden sie „gemacht“?

Vortragsmanuskript zur A.I.D.-Tagung „Mehr als abhängig? Versuche mit Methadon und Heroin“ am 15. und 16. Mai 1998 in Berlin

 


1. Einleitende Bemerkungen

In der Drogen- und Suchtdiskussion existiert – disziplinunabhängig – im professionellen Alltagsvokabular eine verwirrende Vielfalt an Begriffen, die – oft ohne klare Abgrenzung voneinander – häufig synonym und zudem nicht abgegrenzt vom metaphorischen Gebrauch in der Medien- und Alltagssprache verwendet werden – beispielhaft etwa: „Drogen“, „Abhängigkeit“, „Sucht“ und – neuerdings – „SCHWERSTABHÄNGIGKEIT“ (vgl. SCHEERER 1995; FUCHS/GÖLZ 1995). Die Ungenauigkeiten und Mängel dieser begrifflichen Konstrukte werden kaum noch reflektiert: Man unterstellt ein gegenseitiges Wissen über das, worüber man spricht, die Kontextgebundenheit spezifischer Wertvorstellungen scheint ausgeklammert, und es wird nicht (mehr) wahrgenommen, daß die Diskussion nicht selten auf einer Ebene diffuser „Pseudoverständigung“ auf der Basis konstruierter „Worthülsen“ (FUCHS/GÖLZ 1995, 8) erfolgt. Dies alles geschieht – nebenbei gesagt – vor dem Hintergrund, daß es bis heute keine allgemein anerkannte Theorie zur Drogengebrauchsgenese gibt! (vgl. SCHMIDT-SEMISCH 1997). Was heißt eigentlich „schwerstabhängig“ und wie wird man „schwerstabhängig“ („gemacht“)? Handelt es sich dabei nicht um eine politisch-motivierte Wortkreation, die nun von Wissenschaft und Praxis mit Inhalten gefüllt werden muß?

2. Pathologisierung von Drogengebrauchern oder wie Drogengebraucher krank „gemacht“ werden

Das oben angesprochene Merkmal der „Pseudoverständigung“ wird allerdings dadurch relativiert, daß sich bereits seit langem eine wissenschafts- und professionsübergreifende „Ver(selb)ständigung“ bezüglich der Betrachtung der Verlaufsform einer sog. „Drogenkarriere“ etabliert hat, die sich in einer mechanistischen Betrachtungsweise manifestiert, nach der sich die Abhängigkeitsentwicklung als ein linearer, stereotypischer Prozeß vom Einstieg in den Drogengebrauch bis hin zur Abhängigkeit und körperlichen, psychischen und sozialen Verelendung vollzieht. Dies kann anhand des in kaum einer Fachpublikation fehlenden Definitionsversuches des Begriffes „Abhängigkeit“ durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) verdeutlicht werden. Nach dieser Definition resultiert die wiederholte Einnahme von Drogen (aufgrund deren pharmakologischer Eigendynamik) rasch in drei Effekten: Toleranzentwicklung, physische Abhängigkeit, psychische Abhängigkeit (vgl. BORNEMANN/FREYE 1998). Diese Definition, häufig gepaart mit der Präsentation einer angeblichen und simplifizierenden Kausalkette „Pharmakologie der Droge bzw. Substanz“ – „Persönlichkeits-/Sozialisationsdefizit“ („Suchtpersönlichkeit“)- „Abhängigkeit“ – „Therapie“ – „Abstinenz“, suggeriert einen generell gültigen, quasi naturgesetzmäßigen, substanzinhärenten und persönlichkeitsbedingten (zur „Sucht“ prädisponierte Persönlichkeit) Automatismus und eine völlig drogenbezogene Verhaltensdetermination in der Drogengebrauchs- und -abhängigkeitsentwicklung. Zur näheren Klassifikation stehen der Medizin u.a. die Merkmalkataloge und Diagnosekriterien der ICD 10 und der DSM-III- und -IV-R zur Verfügung. Diese listen in bezug auf Drogengebrauch nicht nur mögliche Abhängigkeitskriterien, sondern auch ein großes Arsenal möglicher psychischer Störungen auf, wobei Drogenabhängigkeit selbst schon als eigenständige psychische Störung zu begreifen ist: „…substance use disorders (abuse or dependence on … illegal drugs) belong to the most frequent forms of mental disorders in the community, and are also frequently associated with other forms of mental disorders (comorbidity)“ (WITTCHEN/PERKONIGG/REED 1996, 36). Ich möchte an dieser Stelle nur kurz daran erinnern, daß sich Ätiologie, Nosologie und Diagnostik von Doppeldiagnosen in der Praxis als äußerst problematisch erweisen (vgl. etwa: BACHMANN et al. 1997). Alles (von „Experten“) zugeschriebene normabweichende Verhalten gewinnt somit pathologische Qualität und resultiert in einer Entmündigung der Patienten (Handlungsunfähigkeit, kein Mitspracherecht, obligatorische psychosoziale Begleitbetreuung oder -therapie). „It is easy and cheap to designate as ‚inferior‘ or ‚weak‘ or ‚psychopathic‘ persons whose vices are different from our own and whom we consequently do not understand“ (LINDESMITH 1938, 596). Dieses auch in nicht-medizinischen Professionen weithin favorisierte Verlaufs- und Krankheitsmodell (wer definiert hier eigentlich, was normabweichend und „krank“ ist?! – u.a. auch die, die berufsbedingt dadurch nicht schlecht profitieren), basierend auf einer verengten Sichtweise der rein drogeninduzierten physischen und psychischen Abhängigkeit, deren Merkmale Selbstkontrollverlust, Wiederholungszwang, Handlungsunfähigkeit, zwangsläufiger körperlicher Verfall und soziale Verelendung, Störungsakkumulation und permanente Dosissteigerungstendenz zur Vermeidung von Entzugssymptomen seien, verkennt jedoch in eklatanter Weise einerseits, daß Drogengebrauch nicht automatisch in einen Abhängigkeitsstatus münden muß, und zweitens, daß Abhängigkeit kein statischer Zustand ist, der nur durch professionelle Intervention aufhebbar ist (vgl. ausführlich: WEBER/SCHNEIDER 1997). Es ist eben nicht so, daß ein kompulsiver (zwanghafter und exzessiver) Drogengebrauch („Drogenabhängigkeit“) durch vorab festlegbare, „objektive“ (meßbare) Prognose- und Diagnosekriterien definierbar ist. Drogengebrauch ist vielmehr ein Phänomen mit sehr unterschiedlichen Entstehungsbedingungen und einem äußerst heterogenen Erscheinungsbild. Die Entwicklungspfade sind in alle Richtungen „offen“. Kompulsiver Gebrauch stellt nur ein mögliches Stadium eines u.U. längerfristigen, aber auch jederzeit reversiblen Prozeßverlaufs dar. Auch für die Bundesrepublik ist mittlerweile sehr gut dokumentiert, daß es durchaus autonom kontrollierte (regelorientierte), sozialintegrierte Möglichkeiten des Gebrauchs illegalisierter Drogen sowie Selbstausstiegsprozesse ohne professionelle Unterstützung (Behandlung und Betreuung) gibt (etwa: WEBER/SCHNEIDER 1997; SCHMIDT 1996). Es existieren keine identischen drogal-biographischen Entwicklungsverläufe. Die Dynamik möglicher drogaler Entwicklungslinien macht eine Konkretisierung am Einzelfall erforderlich. Zur Beschreibung subjektspezifischer Entwicklungsprozesse bedarf es der Anwendung biographiebezogener und lebenslauforientierter Forschungsdesigns und qualitativer Forschungsmethoden (vgl. ausführlich: SCHNEIDER 1996). Die in Deutschland noch immer dominierenden quantitativ-orientierten Forschungsansätze sind jedenfalls nicht in der Lage, biographische und interaktive Zusammenhänge im subjekt- und settingspezifischen Entwicklungsverlauf prozeßhaft zu erfassen.

Die oben skizzierte, verallgemeinernde Blickrichtung auf das Phänomen Drogengebrauch resultiert in einer generellen Pathologisierung aller Drogengebraucher. In einfachen Worten ausgedrückt: Wenn ich eine Situation als real beschreibe, sind auch die Konsequenzen real. Daß hierbei die Ausgangspunkte nur Konstruktionen von Wirklichkeit sind, wird nicht mehr wahrgenommen (vgl. etwa: BERGER/LUCKMANN 1966; HERWIG-LEMPP 1994). Um nun nicht selbst von möglichen Kritikern meiner Ausführungen mit einer „Wahrnehmungsstörung“ etikettiert zu werden, möchte ich folgendes anmerken:

Es gibt sie, die extrem somatisch, psychisch und sozial verelendeten, häufig politoxikomanen und nicht wartezimmer- und verabredungsfähigen Drogenkonsumenten und Methadonpatienten. Sie sind ja auch seit Jahren schon nicht mehr zu übersehen, trotz zunehmender ordnungspolitisch-motivierter Vertreibungsstrategien („Junkie-Jogging“) – auf Bahnhöfen und Bahnhofsvorplätzen, in öffentlichen Parkanlagen und anderen öffentlichen Plätzen sowie zunehmend auch in den Einrichtungen der Drogen- und Aidshilfe und in Arztpraxen und Kliniken.

Ohne jedoch einen Blick über den Tellerrand eigener (eingeengter) institutioneller und disziplinärer Eingebundenheit, Theoriepräferenz und favorisierter Methodenkanons zu werfen, wird aber nicht mehr zur Kenntnis genommen, daß es auch andere Drogengebraucher gibt als die „eigenen“, „problembeladenen“ Patienten oder Klienten. Die kontrollierten und sozialintegrierten bekommt man nicht zu Gesicht – warum auch?! Darüber hinaus bieten Institutionen einen leichten (bequemen) Zugang zu „unerschöpflichen“ Probandenpools von „Störungsbündeln“. Es werden munter Kohorten „gezimmert“, Cluster gebündelt und oft aberwitzige Korrelationen durchgeführt, und was sind die Ergebnisse? Kaum jemand merkt (will mehr merken?), daß damit die Wissenschaft und Forschung – von einigen wenigen Ausnahmen einmal abgesehen – die Aufrechterhaltung von Drogenmythen und die Konstitution der Dramaturgie des „Drogenproblems“ vorantreibt und somit die herrschenden Wahrnehmungsfolien (etwa: ‚Drogen sind gefährlich‘ oder ‚Drogenabhängige sind krank und generell behandlungsbedürftig‘) kontinuierlich reproduziert und verfestigt. Ausgangspunkt für generalisierende „Forschungs“-Ergebnisse ist in der Regel der „sichtbare“ (verelendete) Straßenjunkie oder der institutionalisierte „Patient“ oder „Klient“, der dann nach allen Regeln der Kunst analysiert, zergliedert und seziert, dessen „Sucht“-Persönlichkeit erst de-, dann wieder rekonstruiert wird. Gerade von „der“ (medizinischen) Wissenschaft sollten Impulse zur Entmythisierung erfolgen (vgl. SCHNEIDER 1998). So sind etwa „bei dauerhafter Opioidzufuhr […], entgegen der verbreiteten Meinung, keine Organschädigungen und nur wenige körperliche Folgen, z.B. Obstipation, zu beobachten. Der oft anzutreffende reduzierte körperliche Status der Abhängigen ist überwiegend durch eine Vielzahl von anderen Faktoren, wie z.B. schlechter Ernährungszustand, mangelnde Hygiene oder Infektionen durch unreine Spritzen, bedingt“ (BORNEMANN/FREYE 1998, 5). Gesundheitliche Begleit- und Folgeschädigungen des illegalisierten Drogengebrauchs sind demnach weniger substanzbedingt (wenn die Substanzen in reinem Zustand und nicht, wie auf dem illegalen Drogenmarkt üblich, mit schädlichen Substanzen gestreckt sind), sondern in erster Linie Folge kriminalisierter Konsumbedingungen und Verwendungskontexte. Es erscheint daher sinnvoll, die schädlichen Auswirkungen von Drogengebrauch in „drug-related“ und „law-related“ zu differenzieren (vgl. BORNEMANN/GERLACH 1998), d.h., es muß eine scharfe Trennung zwischen Drogen- und Drogenpolitikwirkung erfolgen. Hiervor dürfen sich weder die Medizin noch andere wissenschaftliche und praktische Disziplinen länger verschließen.

Aktuell zeichnet sich eine zunehmende Medizinalisierung der Drogenhilfe ab, die einige Gefahren in sich birgt. Um nicht mißverstanden zu werden: Mediziner sind im Drogenhilfebereich unentbehrlich (vgl. BORNEMANN/GERLACH 1998). Gefährlich ist die mit der zunehmenden Einbindung von Medizinern in den Hilfesektor verknüpfte Übernahme „verengter“ Abhängigkeitstheorien und konstruierter (psychiatrischer) Zuschreibungskriterien (Diagnosekriterien), was in einer generellen Pathologisierung aller drogengebrauchenden Menschen aufgrund der Verfestigung des Krankheitsparadigmas resultiert und somit die Möglichkeit der Etablierung genußorientierter und kontrollierter Drogengebrauchsformen ausklammert. Die gesundheitliche und soziale Verelendung drogengebrauchender Menschen ist in erster Linie Folge der Prohibition, der Illegalisierung von Drogen und der Kriminalisierung der Konsumenten. Diesem Aspekt wird allgemein weiterhin ungenügend Beachtung geschenkt; er wird aber gerade im Bereich der medizinischen Diskussion und Fachliteratur bisher sträflich vernachlässigt. Zu einer Entdämonisierung von z.B. Heroin haben in jüngster Zeit vor allem die Schweizer Projekte der ärztlich kontrollierten Originalstoffvergabe beigetragen (vgl. etwa: UCHTENHAGEN 1997). Allerdings sei auch an die Schweiz die Frage gestattet: „Wie „krank“ müssen Drogengebraucher eigentlich sein, um in den „Genuß“ einer Methadonbehandlung oder Originalstoffvergabe mit z.B. Heroin zu gelangen?! Müssen Drogengebraucher erst völlig verelenden, (als) „schwerstabhängig“ und „schwerkrank“ (etikettiert) werden (zu können)? Warum lassen Politik, Medizin und Drogenhilfe die Menschen überhaupt erst so weit verelenden, wo wir doch wissen, wie oben beschrieben, daß die mit Drogengebrauch häufig auftretenden Schädigungen in erster Linie nicht substanzbedingt sind?


3. Die Rolle substituierender Ärzte

Vorurteile, Einstellungen, aber auch Wissensstand substituierender Ärzte haben einen nicht unwesentlichen Einfluß auf „Gesundung“ oder „(Schwerst-) Verkrankung“ von Methadonpatienten. Zur Verdeutlichung dieser These seien nachfolgend einige ausgewählte Ergebnisse des Forschungsprojektes „Einstellungen und Vorurteile substituierender Ärzte in der Region Westfalen-Lippe“ zusammenfassend dokumentiert (vgl. ausführliche Projektbeschreibungen: GERLACH et al. 1997; GERLACH/CAPLEHORN 1998). Die Ergebnisse stützen sich auf ein Gesamtsample von 247 mit Methadon substituierenden Ärzten. Nahezu zwei Drittel der befragten Ärzte bewerten Drogenabhängigkeit als eine Bedrohung für die Gesellschaft. Ein Großteil der substituierenden Ärzte plädiert daher für eine harte Bestrafung von Drogenhändlern: Erwachsene, die Drogen an Minderjährige verkaufen, sollten zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt werden, meinen 33,5%; 20% sind sich bezüglich dieser Fragestellung unsicher. Personen, die wegen des Verkaufs illegalisierter Drogen verurteilt werden (das sind in der großen Mehrzahl keine abstinenten Großdealer, sondern meist „drogenabhängige“ Kleindealer, die über den Verkauf ihren eigenen Drogenbedarf decken!), sollten nach Ansicht von 39,4% der Ärzte keine Bewährungsstrafen erhalten; 19% sind sich bezüglich der Bewertung dieser Aussage unsicher. In bezug auf Drogenabhängigkeit und Drogenabhängige zeigt sich zunächst eine liberalere Grundhaltung: So befürworten 83,7% die Bereitstellung von Nadel- und Spritzentauschmöglichkeiten. Als Zielgruppe der Methadontherapie sehen 80% der Ärzte alle Heroinabhängigen, die eine solche Behandlung wünschen. Primärziel der Behandlung bleibt für 67% der Befragten die völlige Opiatabstinenz. Es besteht weitgehend Einigkeit darüber, daß die Behandlungsdauer im allgemeinen zwar nicht zeitlich befristet sein sollte (77,1%), Patienten aber nach einer stabilen Behandlungsperiode zu einer schrittweisen Abdosierung vom Methadon motiviert werden sollten (90%-Plädoyer). Uneinigkeit besteht allerdings hinsichtlich der Dauer einer stabilen Behandlungszeit: Während sich 41,5% der Ärzte bereits auf eine stufenweise Abdosierung festlegen, sobald ein Patient seinen Heroingebrauch eingestellt hat, meinen 35,2%, den Patienten sollte eine 3- bis 4-jährige Behandlungsdauer angeraten werden. Bereits hier relativiert sich die Liberalität der Ärzte. Deutlicher werden restriktive Einstellungen an den nachfolgenden Beispielen: So stimmt etwa nahezu die Hälfte der substituierenden Ärzte (48,1%) der Aussage zu, daß die Patienten gerade so viel Methadon erhalten sollten, daß das Einsetzen von Entzugserscheinungen unterdrückt wird. Hierzu muß angemerkt werden: Findet dieses Meinungsbild tatsächlich Praxisumsetzung, dann unterdosieren fast 50% der Substitutionsärzte ihre Methadonpatienten. Zwar sprechen sich 71,6% der Befragten für eine versuchsweise Erhöhung der Methadondosis bei Patienten mit Heroinbeigebrauch aus, doch wird auf fortgesetzten Parallelgebrauch von Heroin dann von 58% mit Behandlungsabbruch reagiert. Da vermutlich fast die Hälfte der Ärzte die Methadondosis ohnehin zu niedrig bemessen, kann geschlußfolgert werden, daß sie die Dosis wahrscheinlich nicht ausreichend erhöhen, denn in der Regel ist fortgesetzter Heroingebrauch vor allem auf zu niedrige Methadondosierungen zurückzuführen. Bezüglich der Frage, ob die Nichteinhaltung von Beratungsterminen mit einer stufenweisen Abdosierung vom Methadon geahndet werden soll, gibt es zwei fast gleich große Lager von Befürwortern (38,4%) und Gegnern (39%) – und einen hohen Anteil an Unentschlossenen (22,6%). Auf Benzodiazepin-, Kokain- und exzessiven Alkoholkonsum wird mehrheitlich mit Behandlungsabbruch reagiert, obwohl „Drogenabhängigkeit“ (auch Politoxikomanie) doch gerade der Grund für die Behandlungsauf – und -teilnahme des Patienten sind. Wenn Drogenabhängigkeit denn als Krankheit aufgefaßt wird, dann muß Beigebrauch als bestehendes Symptom dieser Erkrankung angesehen werden und nicht als ein Delikt, das bestraft werden muß (Ausschluß von der Behandlung). Die Folgen frühzeitiger Behandlungsabbrüche sind hinlänglich bekannt: Sie reichen von erneuter oder sich verschlimmernder Verelendung bis hin zum Tod. Und dies vor dem Hintergrund, daß den Ärzten der (präventiv-)medizinische Nutzen von Methadonbehandlungen durchaus bekannt ist: 95% stimmen der Aussage zu, daß durch eine Methadonbehandlung die gesundheitlichen, sozialen und rechtlichen Risiken einer Opiatabhängigkeit erheblich reduziert werden, und 98,7% sehen eine Reduktion der Beschaffungskriminalität. Wie groß das Ausmaß der Voreingenommenheit gegenüber Drogenabhängigkeit und Drogenabhängigen ist, offenbart sich darin, daß 35% der Ärzte (also mehr als ein Drittel!) die Aussage „Drogenabhängigkeit ist ein Laster“ bejahen und sich weitere 10,5% unsicher sind, ob Drogenabhängigkeit so zu bewerten ist oder nicht! Eine (adäquat) hohe Methadondosierung blockiert die euphorisierende Wirkung additional applizierten Heroins. Diese Erkenntnis ist die Basis der Methadonbehandlung. Dennoch sind sich fast ein Viertel (23,9%) unsicher, ob dies so ist, und 12,6% negieren gar diesen Effekt! Diese Beispiele mögen genügen, um ein breites Spektrum negativer Einstellungen und Wissensdefizite in großen Teilen der substituierenden Ärzteschaft zu verdeutlichen. Beides verschlechtert die Qualität der Behandlung, trägt vielfach zur „Schwerstabhängigkeit“ bei und ist sicherlich nicht unbedingt der psychischen Stabilisierung der Patienten zuträglich. Daß zumindest in der in der Region Westfalen-Lippe durchgeführten Studie die völlige Opiatabstinenz noch immer von der Mehrzahl der befragten Ärzte als Primärziel der Methadonbehandlung angesehen wird – sie hat Vorrang vor präventiv-medizinischen Zielen (etwa : HIV, Hepatitiden) und der Überlebenssicherung der Patienten -, zeigt, wie groß das Mißverständnis hinsichtlich dieser Behandlungsmethode auch weiterhin noch ist (vgl. auch GERLACH 1998). Über den Häuptern der Patienten schwebt weiterhin das Damoklesschwert der fremdbestimmten Detoxifikation. Hier kann eine enorme psychische Belastung für die Patienten entstehen, werden sie doch häufig in die Position gedrängt, entweder abstinent oder als Therapieversager etikettiert zu werden – sie bekommen immer wieder zu spüren, daß die ihnen zuteilkommende Behandlung eigentlich „unerwünscht“ ist bzw. geworden ist.


4. Fazit

Es gibt stark physisch, psychisch und sozial verelendete Drogengebraucher und Methadonpatienten. Diese Menschen bedürfen der Unterstützung, wenn sie denn von den Betroffenen erwünscht ist. Die Hilfen müssen auf freiwilliger Basis zugänglich, die Angebote von Abstinenztherapien bis hin zur Originalstoffvergabe offen sein, und die von den Betroffenen geäußerten Bedürfnisse müssen im jeweiligen Behandlungs-/Beratungssetting Berücksichtigung finden. Wir dürfen uns, gleich welcher Profession oder Wissenschaftsdisziplin angehörig, nicht mit der Behandlung, Entdeckung oder Erforschung von „Symptomen“ begnügen. Ich habe den Eindruck, daß leider nur allzu oft „vor lauter Bäumen – und finanziellen „Abhängigkeiten“ – der Wald nicht mehr gesehen wird“. Im Gegensatz zu vielen meiner Kollegen vertrete ich die Auffassung, daß die „sichtbaren“ (noch einmal: ich sehe sie auch!) negativen Konsequenzen des illegalisierten Drogengebrauchs weniger substanz- und persönlichkeitsbedingt als vielmehr die Folge kriminalisierter Lebens- und Konsumbedingungen, mythenkonservierender Forschung, pathologisierender Stigmatisierungsszenarien und vorurteilsbeladener Behandlungs- und Beratungsstrategien sind. Insofern gibt es „schwerstabhängige“ Methadonpatienten, und sie werden „gemacht“.


Literatur

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