Kritische Anmerkungen zur aktuellen Diskussion und Praxis von „PSB“

Konzepte in der psychosozialen Beratung/Betreuung von Substituierten – Denn sie wissen nicht, was sie tun?

 

Ralf Gerlach, Dipl.-Päd.
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Referat beim Qualitätszirkel Suchttherapie

(Mannheim, Heidelberg, Rhein-Neckar-Kreis) 

in Mannheim am Dienstag, 28.10.2003


 

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich darf mich zunächst recht herzlich für die Einladung zu Ihrem heute in Mannheim stattfindenden Qualitätszirkel bedanken.

Die Stadtgrenzen des widerspenstigen „gallischen Dorfes“ Münster zu überschreiten ist heutzutage allerdings angesichts der sich aktuell in Drogenhilfe und Drogenpolitik abzeichnenden Rück-Entwicklungen, die auch die Substitutionslandschaft in Deutschland stark beeinflussen bzw. beeinflussen werden, ein mutiger Schritt, begebe ich mich doch, quasi wie Asterix und Obelix, in „feindlich“ besetztes Terrain und dies, ohne über deren schützenden  „Zaubertrank“ zu verfügen. In Analogie zu dem von Goscinny und Uderzo kreierten, von den Römern eingeschlossen gallischen Dorf fühlen wir uns in Münster drogenpolitisch von Roll-Back-Strategen umzingelt, gegen die wir uns allerdings bis jetzt genau so hartnäckig und erfolgreich verteidigen konnten, wie die gallische Dorfgemeinschaft gegen die Römer.

Wenn ich Ihnen heute ausschließlich über die konkrete Handhabung von „PSB“ in Münster erzählen müsste, wäre mein Vortrag bereits nach fünf Minuten beendet. Sie können sich sicher denken, dass ich dafür allein nicht die weite Reise nach Mannheim auf mich genommen habe.

Ganz in „Gerlachscher Tradition“ erlaube ich mir deshalb, das Gesamt „PSB“ und die in diesem Konstrukt professionell Agierenden einer kritischen Würdigung zu unterziehen.

Ich darf vorwegschicken, dass sich die Angebotspalette psychosozialer Maßnahmen in Münster nicht von der in anderen Städten und Einrichtungen unterscheidet. Allerdings fühlen wir uns nicht dem allgemeinen Verpflichtungswahn – „wir fühlen uns verpflichtet, verpflichtend zu arbeiten“ – verpflichtet.

Es mag sein, und darauf möchte ich Sie schon einmal vorbereiten, dass manches von dem, was ich Ihnen heute Abend zu sagen habe, möglicher Weise auf Ihre fachliche Missbilligung stoßen, Kopfschütteln, aber vielleicht auch Schmunzeln, verursachen oder Sie gar wütend machen wird. Nehmen Sie nicht alles so ernst, wie wir uns alle vielleicht nicht ganz so wichtig nehmen sollten! Was auch immer Sie am Schluss denken mögen, seien Sie versichert, dass in Münster professions- und disziplinübergreifender Konsens über die von INDRO e.V. und Städtischer Drogenhilfe geleistete „PSB“ besteht, dass wir erfolgreich vernetzt zusammenarbeiten  und dass wir „unser gallisches Dorf“ auch weiterhin vehement gegenüber feindlichen Attacken verteidigen werden.

Worüber reden wir eigentlich? – Was ist „PSB“?

Es gibt sie nicht, „die“ PSB, obwohl diese Abkürzung schon seit über einem Jahrzehnt Bestandteil unseres tagtäglichen Praxisvokabulars ist und wir alle zu wissen meinen, was sich dahinter verbirgt und was sie inhaltlich bedeutet. Tun wir aber nicht so, als wüssten wir, worüber wir reden?

Einigkeit besteht doch nur darüber, dass die Abkürzung „PS“ nicht für „Pferdestärken“, sondern für den Begriff „psychosozial“ steht. Bezüglich des „B“ besteht eine breite Translationsvielfalt: Begleitung, Betreuung, Begleitbetreuung, Beratung, Behandlung. Beispielhaft etwa:

BtMVV:

„psychosoziale Behandlungs- und Betreuungsmaßnahmen“

BÄK-Richtlinien:

„psychosoziale Betreuung“, „psychosoziale Begleitung“ und „psychosoziale Begleitbetreuung“.

BUB-Richtlinien:

Ausschließlich „psychosoziale Betreuung“

FDR-Leitlinien (2003):

Psychosoziale Behandlung und psychosoziale Betreuung

Akzept-Leitlinien (1995):

Psycho-soziale Begleitung und psycho-soziale Unterstützung

Positionspapier Gesamtverband für Suchtkrankenhilfe im Diakonischen Werk der Ev. Kirche in Deutschland e.V.:

Psychosoziale Betreuung, psychosoziale Behandlung

Alternativ:

INDRO e.V. und Städtische Drogenhilfe Münster:

Entwicklungsbegleitende, psychosoziale Unterstützung

Können sich vor diesem Hintergrund allgemeine wie spezifische Diskussion über PSB nicht nur noch auf einer Ebene diffuser Pseudoverständigung vollziehen?

Es verwundert daher kaum, dass Umfang und Inhalt psychosozialer Maßnahmen im Rahmen der Substitutionsbehandlung Opiatabhängiger zwischen Bundesländern, Kommunen und Drogenhilfeeinrichtungen enorm variieren und dass es große Unterschiede sowohl in der Qualität als auch in der Finanzierung dieser Angebote des Drogenhilfesystems gibt, d.h. Organisation und Angebotsstruktur von PSB vollziehen sich bundesweit uneinheitlich je nach professions- und disziplinspezifischem, fachlichem, institutionellem (trägerspezifischem), politischem, kostenträgerspezifischem, leitliniengeprägtem und persönlichem theoretischen, ideologischen, moralischen oder religiösen Hintergrund, zu dem sich darüber hinaus auch die konkrete Planung der Organisationsstruktur und die Arbeitspraxis beeinflussende, individuell unterschiedliche positive und/oder negative Einstellungsmuster beispielsweise gegenüber Drogen, Drogengebrauchenden/-abhängigen, Substitutionsbehandlungen und Drogenpolitik gesellen. Dass sich Politiker, Verwaltungskräfte und Medienmitarbeiter angesichts der o.g. Translationsleistungen in den terminologischen, interdisziplinären und handlungsfeld-bezogenen Labyrinthen noch weniger zurechtfinden als die in der Praxis agierenden Professionellen, dürfte nachvollziehbar sein.

Ja, was ist denn nun „PSB“? Unternehmen wir einen kurzen Skizzierungsversuch:

PSB ist ein Sammelbegriff für eine Vielzahl möglicher Maßnahmen. Diese können z.B. Krisenintervention, Schuldner- und Rechtsberatung, Hilfe bei Arbeitsplatz- und Wohnraumbeschaffung, Unterstützung bei der Aufnahme schulischer und beruflicher Qualifizierungsmaßnahmen, Freizeitgestaltung, Beratung bei Partnerproblemen, Safer-Use-, Safer-Sex- und Ernährungsberatung, Beratung hinsichtlich Kindererziehung und –betreuung, Unterstützung bei rechtlichen Problemen zur Haftvermeidung oder auch (therapeutische) Gruppenarbeit umfassen.

Aufgrund der Komplexität möglicher psychosozialer Angebotsinhalte variiert die Bedeutung des „B“ in der Praxis tatsächlich: „B“ kann je nach angebotener Unterstützung Begleitung (kurz-, mittel- oder längerfristig unter „lockeren“, d.h. wenig verbindlichen Rahmenbedingungen) oder Betreuung/Begleitbetreuung (mittel- bis langfristig verbindlich im reglementierten Setting) oder Beratung (ein- oder mehrmalig) sein – aber auch hierüber besteht kein allgemeiner Konsens. Ich werde deshalb im Folgenden zusammenfassend von psychosozialen Unterstützungsmaßnahmen sprechen. Was es aber unter den aktuellen Bedingungen der Praxisumsetzung von PSB in Drogenhilfeeinrichtungen aus formalrechtlicher Sicht nicht sein darf, ist Behandlung, es sei denn, PSB wird von Angehörigen der Heilberufe, etwa Ärzten oder Psychotherapeuten, geleistet.


Was „bringt“ PSB ?

Es ist bisher nicht wissenschaftlich nachgewiesen werden, dass es Substituierten umso besser geht, je umfangreicher und intensiver psychosoziale Unterstützungsmaßnahmen sind. Eine derartige generalisierende Schlussfolgerung lassen auch die international bekannten Untersuchungsergebnisse von BALL und ROSS (1991), McLELLAN ET AL. (1993) und WOODY (1994) nicht zu (auch die sehr undifferenzierte Studie von PRINGLE ET AL. 2002 führt diesbezüglich zu keinen neuen Erkenntnissen).  Mit DEGKWITZ gesprochen besteht die Forschungsproblematik darin, dass die differenzierte Wirkungsanalyse der PSB schwierig ist, wenn die Einflüsse der PSB von anderen konkurrierenden Wirkfaktoren getrennt werden sollen.“ (DEGKWITZ 1998, 23).

 

Es ist unstrittig, dass sich besonders zu Behandlungsbeginn viele Substitutionspatienten oft in prekären Lebenssituationen befinden, da während des Verlaufs der Drogengebrauchsentwicklung – meist als Folge der Substanzenillegalität und damit verbunden der Kriminalisierung der Drogengebrauchenden – die (psycho-) soziale und gesundheitliche Verelendung häufig weit vorangeschritten ist. Die Einleitung einer Substitution setzt sozusagen erst die Anfangsmarkierung, um Isolation, materielle, psychosoziale und gesundheitliche Folgeschäden von Drogenabhängigkeit aufzufangen.

Es ist ferner unstrittig, dass dementsprechend die Substitution begleitende psychosoziale Maßnahmen eine sinnvolle Ergänzung des medizinischen Teils der Substitution sind.

Das heißt jedoch nicht, dass jeder Patient psychosoziale Unterstützung benötigt!

Eine obligatorische Teilnahme aller Substitutionspatienten an psychosozialen Unterstützungs- und Therapiemaßnahmen ist aus meiner Sicht abzulehnen, da die Gefahr besteht, dass ein solcher Verpflichtungsmechanismus kontraproduktive Effekte hervorrufen und in einer widerwilligen und damit therapeutisch wertlosen Zwangsübung für die Betroffenen resultieren kann: Unter Zwangsbedingungen lässt sich ein offenes Vertrauensverhältnis zwischen „Betreuer“/Therapeut und Angebotnutzenden nur schwer etablieren. Die Teilnahme muss eigenmotiviert und auf freiwilliger Basis erfolgen – Ausnahme: schweres psychiatrisches Krankheitsbild mit Selbst- und/oder Fremdgefährdung. Eine Freiwilligkeit der Teilnahme ergibt sich meines Erachtens auch aus SGB V §§ 140a und b.

Richtig ist also, und dies zeigen alle bisherigen Forschungsarbeiten und Praxiserfahrungen, dass psychosoziale Unterstützungsmaßnahmen einen positiven Einfluss auf den Verlauf der Substitutionsbehandlung und den Entwicklungsprozess der Patienten ausüben können – dass sie aber die Substitution vielleicht auch negativ beeinflussen können, ist bisher nicht untersucht worden! Neben Forschenden im Substitutionsbereich scheint eine solche „Unterstellung“ auch für die Praxis unannehmbar, schließlich wird doch nach „fachlich-pädagogischen“ Gesichtspunkten und ausgegorenen Konzepten, Therapie- und Begleitplänen „mit den Klienten gearbeitet“.

„Klienten“, die offensichtlich trotz aller Bemühungen und Unterstützung der „Helfenden“ von den psychosozialen Angeboten nicht profitieren können oder wollen, werden allzu häufig leichtfertig und ohne selbstkritische Reflexion in „die Resistenzschublade“ abgelegt. Da hilft es ja auch oft, wenn man sich als Sozialarbeiter/-pädagoge vermeintlich in psychiatrischer Diagnostik auskennt und scheinbar für alle Kollegen nachvollziehbar und „mitfühlend“ (waren die alle auf den gleichen Fortbildungsveranstaltungen?!) den „Klienten“ mit einem Arsenal an Störungsdefiziten etikettieren kann – sehr beliebt: Borderline. Fragen Sie die Diagnostiker doch einmal, was sie darunter verstehen; Sie werden sich wundern, was Sie als Antworten erhalten! Wie dem auch sei, die Angebotsnutzer werden so in Zuschreibungsgefängnisse gehüllt. Darüber hinaus gibt es aber auch das Phänomen der Overprotection: Ich weise hier ausdrücklich darauf hin, „daß eine psychosoziale Überbetreuung durchaus auch schädlich sein kann, weil sie nämlich den Entwicklungsprozeß hin zur Selbstverantwortung für die Lebensführung stören könnte“ (BSCHOR 1990, 7) und somit Empowerment-Bestrebungen blockiert – nebenbei gesagt: Ein übereifriger helfender Aktionismus  („Helfersyndrom“) und eine emotionale „Betroffenheits-Duselei“ seitens der „Helfenden“ sind weder für sie selbst noch für die Patienten besonders hilfreich. Sie fördern zudem eine übersteigerte Erwartungs- und Anspruchshaltung auf Klientenseite, über die sich „Betreuer“/Therapeuten dann allerdings auch gern – zwar zurecht, aber leider wenig realitätsadäquat und ursachenorientiert reflektierend – beklagen. „Lockere“, unverbindliche Gespräche/Gesprächsan-gebote zeitigen, dies zeigen unsere jahrelangen Praxiserfahrungen, nicht selten einen größeren therapeutischen Nutzen als rigide strukturiertes therapeutisches Agieren. Unter dem Druck stehend, entweder an PSB-Maßnahmen teilzunehmen oder von der Substitutionsbehandlung ausgeschlossen zu werden, gehen viele Patienten, gestählt durch jahrelange Erfahrungen mit Sozialarbeitern/Therapeuten und häufig mehreren erfolglosen „Durchgängen“ in stationären Therapien, oft „den Weg des geringsten Widerstandes“ und erzählen den „Helfenden“ genau das, was diese hören wollen, um die entsprechende(n) Bescheinigung(en) zu erhalten – tun wir dies selbst nicht auch, wenn wir zum Beispiel Bescheinigungen von Behörden benötigen? Die „Klienten“ übernehmen die (zugedachte) Opferrolle und können unter der sozialpädagogischen Bemutterung/Umarmung sehr gut zurecht kommen, lassen sich gern helfen und adressieren an latente Eitelkeiten: „Du bist echt der beste Sozialarbeiter!“ – der Kollege bei der Caritas, AWO oder einer anderen Einrichtung übrigens auch! Die (Automatisierungs-)Gefahr von Overprotection und damit verbundener Autonomie-Entwicklungshemmung oder Autonomie-Entwicklungsblockierung sowie einer gelobhudelten „Helfersyndromisierung“ ist durchaus gegeben – gekoppelt mit persönlich motivierter moralischer Druckausübung, wie z.B. „Ich würde mich wesentlich besser fühlen, wenn es Dir besser ginge“, im Sinne von „Du musst Dich verändern, damit ich mich gut fühle!“ Es vollzieht sich eine Verantwortungsübernahme: „Mein Klient“, „Meine Klienten“ – Klienten, die sich wie erwünscht verhalten sollen, damit „ich“ zufrieden bin.

Anders formuliert: Die Kommunikations- und Mitmachbereitschaft auf Patientenseite steigt, je besser sie sich verstanden fühlen bzw. sie sinkt umso mehr, je mehr sie sich missverstanden fühlen, wobei die Bereitschaft offen und ehrlich über sich zu reden (Biographie, Sorgen, Probleme etc.) im Letzteren gegen Null tendiert. Die Patienten verfügen über vielfältige individuelle Erfahrungen; sie artikulieren eigene Zielvorstellungen und Lebenswünsche. Sobald diese und der dazugehörige Lebensstil nicht in das Konzept einer Drogenhilfeeinrichtung oder in das „persönliche“ Konzept eines „Beraters“ passen oder nicht sozialer Erwünschtheit entsprechen, erfolgt häufig eine Wertung im Sinne von „der/die sieht sich falsch, hat unrealistische Vorstellungen und Lebensplanungen.“  Die Frage ist: Was will der „Berater“? Was ist wichtiger, das Konzept oder das (subjektive) Wohl der Patienten? Die Einstellung „Ich weiß, was für Dich gut ist“, ist als Anmaßung abzulehnen; sie wird auch von vielen Patienten so empfunden. In der Regel stellt man sich selbst, d.h. die eigene Helferkompetenz, und das zugrunde liegende Konzept nicht in Frage. Da die Teilnahme an „PSB“ aber nun zur Verpflichtung gemacht wird, müssen die Patienten sowohl im Falle rigider (Interventions-)Strategien als auch im Rahmen von Overprotection negative Anpassungsleistungen vollziehen:  In beiden Fällen ist das Resultat Autonomie- und Empowermenthemmung. Auf freiwilliger Basis erreiche ich als „Berater“  mehr Offenheit und erhalte ehrliche(re) Informationen von den Patienten. Es wird ein wesentlich effektiveres Arbeiten möglich, weil die Patienten „es selbst wollen“.

Ferner: Sollten wir nicht endlich begreifen, dass letztendlich Drogenabhängige ihr Leben verändern und/oder aus dem Drogengebrauch aussteigen, weil sie es selbst wollen (Eigenmotivation) – nicht, weil wir alle so gute Sozialarbeiter, Sozialpädagogen, Diplompädagogen oder Psychologen sind, und nicht aufgrund hervorragenden Motivational Interviewings oder anderer idealistisch hochstilisierter Methoden und Methodenkanons? Wir können vielfältige Unterstützung anbieten, aber den Entschluss zu Veränderungen können wir nicht bewirken/auslösen, so „wohlfühlgut“ wir uns dies aus unserem Helferselbstbild heraus auch gelegentlich zuschreiben mögen. Außerdem: Wenn alle favorisierten Methoden und (Interventions-)Strategien so erfolgreich und wir so toll wären, wie angenommen, dürfte es doch wohl kaum noch Drogenabhängige geben!

PSB obligatorischer Bestandteil der Substitution?

Es ist schon erstaunlich, wie sich zu Zeiten einer „Krise des Sozialstaates“ (BUTTERWEGE 2003, 35) und dramatischer Einsparungen im Drogen- und Suchthilfebereich (in NRW z.B. sollen dort 5,5 Millionen Euro eingespart werden) unzählige „Experten“, Verbände und Trägereinrichtungen der Drogenhilfe berufen fühlen, einem seit bereits einigen Jahren währenden allgemeinen Qualitätssicherungs-, Standardisierungs-, Richtlinien-, Leitlinien-, Positionspapier- und Arbeitspapierwahn auf die Spitze zu treiben und z.B. im Bereich von PSB Leitlinien, Positionspapiere und Konzeptionen nach angeblich fachlich begründeten Standards entwerfen und über die Republik verbreiten.

Das Junktim „Substitution darf nur durchgeführt werden, wenn auch an PSB teilgenommen wird“, scheint „fachlich“ unumstritten. Alle fühlen sich dazu verpflichtet, verpflichtend zu arbeiten! Allerdings: Weder ist in den gesetzlichen noch in den kassenrechtlichen Rahmenbedingungen PSB generell als verpflichtender Bestandteil einer Substitutionsbehandlung festgeschrieben. Zur Verpflichtung wird PSB erst durch die Drogenhilfe bzw. PSB-Stelleninhaber! Durch (bewusste?) Fehlinterpretation der Richtlinien der Bundesärztekammer und der seit dem 1. Januar 2003 geltenden, neuen BUB-Richtlinien wird sich zum Erfüllungsgehilfen der Kassenärztlichen Vereinigungen gemacht. Hier vollzieht sich die Einführung von Zwangstherapien in die Substitutionsbehandlung Opiatabhängiger, nicht nur unter Duldung, sondern gerade auch mit vehementer Forcierung der Drogenhilfe! Dabei hat es die „PSB-Therapielobby“ bisher sträflich versäumt, uns einmal darzulegen, wie PSB in (abgelegenen) ländlichen Regionen unter den von ihnen angeregten strengen, bürokratisch-überfrachteten, dafür aber „qualitätsgeschüttelten“ Kriterien zertifiziert realisiert werden soll (vgl. zur Situation der Substitution auf dem Land ausführlich: BAIER 2002).

„PSB“ muss nur dann durchgeführt werden, wenn sie erforderlich ist! Nach aktueller Rechtslage entscheidet der behandelnde Arzt, ob und welche psychosozialen Maßnahmen erforderlich sind (die Überprüfung der Erfordernis ist gemäß BÄK-Richtlinien verpflichtend). Darüber hinaus ist der Arzt für alle die Substitution betreffenden Maßnahmen verantwortlich, und nur er allein trägt ein juristisches und existentielles Risiko – nicht eine PSB-Stelle! Es kann nicht angehen, wie es in einigen Regionen mittlerweile gängige Praxis zu sein scheint, dass PSB-Stelleninhaber über Eignung, Einleitung, Verlauf oder Abbruch einer Krankenbehandlung (Substitution) entscheiden. Dies stellt aus meiner Sicht eine falsche Kompetenzzuschreibung, Kompetenzanmaßung und eine klare Kompetenzüberschreitung seitens der Drogenhilfe dar!

Drogenhilfe selbst unterliegt nicht dem Kassenarztrecht (BUB-Richtlinien). Ich sehe formalrechtlich keine Bindungsverpflichtung der Drogenhilfe gegenüber BUB, zumal die Kostenträgerschaft dort gänzlich ausgeklammert bleibt. Des weiteren: Was hat sich durch die neuen BUB-Richtlinien denn realiter für die PSB geändert? Laut § 7 der BUB-Vorgängerversion musste der behandelnde Arzt bereits dokumentieren, durch wen eine PSB durchgeführt wird. Die einzige eingetretene Änderung ist, dass nun aus Sicht des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen gemäß BUB eine Bescheinigung von der Drogenhilfe ausgestellt werden muss, aus der entweder hervorgeht, dass der Patient keine PSB benötigt oder dass PSB durchgeführt wird, und zwar ohne konkrete Angabe des „Betreuungs“inhaltes, -umfangs und –verlaufs. Weitere Details können nach Zustimmung durch und mit Beteiligung des Patienten zwischen Arzt und PSB-Stelle besprochen werden und gehen die KV nichts an (gegen eine Weiterleitung an den medizinischen Dienst der Krankenkassen wären aus datenschutzrechtlicher Sicht keine Bedenken anzumelden) – vorausgesetzt, entsprechende Drogenhilfeeinrichtungen stimmen der Weiterleitung der PSB-Bescheinigung an die KV überhaupt zu. Dies ist in Münster nicht der Fall: In einer Stellungnahme vom 5.8.03 heißt es u.a.: „Darüber hinaus bekräftigen INDRO e.V. und Städtische Drogenhilfe erneut, dass die aktuelle Gesetzeslage in Bezug auf die Substitutionstherapie keine verpflichtenden Vorgaben für die Drogenhilfe beinhaltet, dass ferner die BUB-Richtlinien für die Drogenhilfe formalrechtlich gesehen keine Relevanz besitzen (wir unterliegen nicht dem Kassenarztrecht) und dass es weder zu Absprachen zwischen Drogenhilfe und KVWL (Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe) gekommen ist, geschweige denn, dass Verträge zwischen diesen vereinbart worden sind. INDRO e.V. und Städtische Drogenhilfe sehen deshalb keinen Anlass dazu, sich quasi zum „Büttel“ der KVWL zu machen (machen zu lassen).“ INDRO e.V. und Städtische Drogenhilfe sind sich darin einig, dass keine PSB-Bescheinigungen an die KV weitergeleitet werden. Um Kostenzusagen-Blockaden der KV/Krankenkassen zu vermeiden, fügen die Ärzte bei Übersendungen von Dokumentationen an die KV folgende Mitteilung bezüglich PSB bei: „Für Patient XXX liegt mir/uns eine Bescheinigung der betreuenden PSB-Einrichtung YYY vor. Da mir/uns die PSB-Stelle die Weiterleitung dieser Bescheinigung an die KVWL untersagt hat, dürfen wir sie nicht der Dokumentation beifügen. Wir bitten die KVWL deshalb, sich im Bedarfsfall mit der Leitung der zuständigen PSB-Einrichtung in Verbindung zu setzen.“ Dieses Verfahren hat sich bisher (Stand: Oktober 2003) noch ohne Komplikationen bewährt.

Aus datenschutzrechtlichen, aber auch aus arbeitszeitlichen Gründen ist es unerträglich, wenn einzelne PSB-Stellen umfangreiche Berichte über Patienten erstellen, die dann an die KV weitergeleitet werden – darüber hinaus muss ernsthaft die Frage gestattet sein: Haben die eigentlich nichts zu tun, dass sie so viel Zeit zum Schreiben von Berichten haben?! Angeblich sind doch alle PSB-Stellen total überlastet! Es genügt völlig, nur bedeutsame Aspekte festzuhalten, und zwar ausschließlich für die interne Dokumentation! Wer jetzt über mangelnde PSB-Kapazitäten klagt, muss sich zudem die Frage gefallen lassen: „Was haben Sie eigentlich vorher gemacht, als Sie auch schon PSB für Substituierte im Angebot hatten?“

Vor dem zuvor geschilderten Hintergrund: Wer als PSB-Stelle oder –Stelleninhaber aufgrund missinterpretierter BÄK- und BUB-Richtlinien und PSB-Leitlinien meint, mehr und „qualitätsgeschwängerte“ Angebote vorhalten zu müssen, handelt aus unserer Sicht primär organisations- oder selbstegoistisch mit pseudofachlichen Begründungen zur Arbeitsplatzerhaltung oder um neue Stellen einfordern zu können und somit realiter nicht im Interesse der Patienten, die ohnehin nicht gefragt werden!

Den „Gipfel“ aktueller Leitlinien-Forderungen bilden völlig unrealistische Personalschlüssel: Schon in den unrühmlichen Methadon-Standards von BÜHRINGER ET AL. (1995) wurde in Standard 18 ein Personalschlüssel von 1:20 im Rahmen der Tätigkeit von Sozialarbeitern für soziale Maßnahmen angesetzt sowie ein Personalschlüssel von 1:40 für Psychologen im Rahmen psychotherapeutischer Intervention (zur Kritik an den Methadon-Standards vgl. ausführlich GERLACH 1996). Aktuell legt der FDR in seinen Leitlinien einen Maximal-Betreuungsschlüssel von 1:25 fest (vgl. FACHVERBAND DROGEN UND RAUSCHMITTEL 2003) – bereits in einer Presseinformation vom 2. August 1995 forderte der FDR, „dass Substitution nur bei bedarfsgerechtem Ausbau der Personalstellen für die psychosoziale Begleitung genehmigt wird“ (FACHVERBAND DROGEN UND RAUSCHMITTEL E.V 1995). Derartige Personalschlüssel übertreffen bei weitem das übliche Ausmaß an institutions-immanentem Selbsterhaltungs- und Ausdehnungstrieb. Sie sind völlig praxis- und realitätsentrückt. Für die Stadt Münster zum Beispiel bedeutete dies bei einer Gesamtzahl von 550 Substituierten die Bereitstellung von 22 Vollzeit-PSB-Stellen! Das Ganze am besten im Rahmen von Einzelfallabrechnung (die Kommunen werden sich bedanken!): Dann fällt nämlich kein Substitutionspatient, auch wenn Stabilität und ein Status sozialer Integration besteht, mehr durch das „PSB-Sieb“, denn schließlich müssen ausreichend Patienten „psbiert“ werden, um die Stellen finanzieren und halten zu können. Da macht es nachvollziehbar Sinn, PSB für jeden Patienten als unverzichtbaren Bestandteil einer Substitutionsbehandlung einzufordern! „Wir kriegen Euch doch, ob Ihr wollt oder nicht!“ Hier wird ein wesentliches Ziel der Substitution, nämlich die Überlebenssicherung der Patienten, zum Ziel der Drogenhilfe verkehrt: Stellen bleiben ja nur so lange gesichert, um es noch einmal deutlich zu wiederholen, so lange genügend „Kunden“ abgerechnet werden können. Geht es nicht schon lange eher um die Interessen und Bedürfnisse von Drogenhilfe als um die der Substitutionspatienten? In Münster sind die zwei vorhandenen PSB-Stellen (eine angesiedelt bei INDRO e.V., die andere bei der Städtischen Drogenhilfe) aufgrund der Flexibilisierung der Arbeit (siehe weiter unten) als Minimum ausreichend. Diese beiden Stellen müssen aber gesichert bleiben.

Der benötigte „Betreuungs“aufwand wird aber auch generell viel zu hoch angesetzt. Als Belegbeispiel sei hier auf das wissenschaftlich begleitete PBS-Projekt im Saarland verwiesen. Bei der zu bemessenden finanziellen Förderung wurde von einem Stundenkontingent von 1,2 bis 1,5 Stunden pro Woche pro Substituiertem ausgegangen sowie davon, dass PSB für etwa ein Drittel bis zur Hälfte der Substituierten indiziert sei. Das Ergebnis der Forschung nach zwei Jahren war: PSB für eine halbe Stunde pro Patient pro Woche. Nur ca. 50% der maximal möglichen Betreuungsstunden wurden in Anspruch genommen. Trotz – oder gerade wegen – des Freiwilligkeitscharakters der Angebote war die Teilnehmerzahl größer (um die 70%) und der durchschnittliche Betreuungsumfang geringer als vor Beginn des Projektes angenommen wurde (vgl. MARZEN 2003).

Wie es vor kurzem ein Kollege vortrefflich formulierte: „Jeder hat im Substitutionsbereich ein Interesse daran, Kosten zu verursachen!“ Neben „der“ Drogenhilfe im Rahmen von PSB sind es z.B. die substituierenden Ärzte (Mehreinnahme durch z.B. tägliches Erscheinenlassen der Patienten in der Praxis und Verzicht auf für die Patienten rehabilitationsfördernde und häufig auch arbeitsplatzsichernde Take-Home-Verordnungen), Apotheker (z.B. jedes Mal neue Methadon-Fläschchen bei entsprechender Abrechnung), die Kassenärztlichen Vereinigungen (Stellensicherung durch Umwandlung der Methadonkommissionen in „Qualitätssicherungskommissionen“).


Kritische Würdigung weiterer ausgewählter Aspekte „der“ PSB   

„Wissenschaftler arbeiten an Modellen. Modelle sind aber nicht unbedingt die Wirklichkeit“ (Joachim Bublath in der ZDF-Sendung „Abenteuer Forschung“, ausgestrahlt am 22.10.03). Beziehen sich Modelle auf menschliches Verhalten und Entwicklungsverläufe, so mangelt es ihnen um so mehr an Realitätstreue. Der subjektive Faktor Mensch ist nicht durch stufenbezogene Ablaufmuster (hierarchisch gestaffelte Zielvorgaben der Veränderung bis zur Abstinenz) standardisierbar. Dies zumindest sollte nach über 30 Jahren bundesdeutscher Drogenhilfeerfahrung zum „Standard“wissen gehören! Dennoch werden wir weiterhin mit Phasenmodellen überflutet, Modellen, in deren konkreter Praxisumsetzung im Rahmen von Behandlungs-, Betreuungs- oder Begleitplänen alles mit einer absorbierenden Unaufhaltsamkeit in freundlich-repressivem Setting mit der Interventionsstrategie des „Motivational Interviewing“ entwicklungspositiv gemäß sozialer Erwünschtheit ineinander zu greifen scheint. Beispielhaft sei hier auf das Phasenmodell KOSA der SOZIALBERATUNG SCHWÄBISCH GMÜND (2003) verwiesen (KOSA = Kontaktphase, Orientierungsphase, Stabilisierungsphase, Ablösephase. Vgl. auch: Degkwitz 1998, 53-56).

Die inhaltliche Ausgestaltung und Ausrichtung aktueller Leitlinien (z.B. FACHVERBAND DROGEN UND RAUSCHMITTEL 2003), Positionspapiere (GESAMTVERBAND FÜR SUCHTKRANKENHILFE … 2003) oder konzeptioneller Arbeitspapiere (z.B. SOZIALBERATUNG SCHWÄBISCH GMÜND 2003) sind ein „Back to the roots“, bedeuten eine phasenorientierte Therapeutisierung psychosozialer Unterstützungsangebote und –inhalte nach dem Vorbild stationärer Abstinenztherapien und ein „Revival“ an Psychopathologisierung, Verunmündigung, Kontrolle, Überprüfung, Definitionsmacht, Klientelisierung und Abstinenz (Heilung) – das Erreichen einer lebenslangen Opiatabstinenz bei allen Drogenabhängigen in Behandlung, und zwar unabhängig von spezifischen Therapiesettings (stationäre, teilstationäre oder ambulante Abstinenztherapie oder Substitutionstherapie), stellt nach aktuellem Forschungsstand ein unrealistisches Therapieziel dar (vgl. HSER/HOFFMANN/GRELLA/ANGLIN 2001. Vgl. zum “Heilungsideal“ auch NEWMAN 2001 und ULLMANN 2004).  Auf der Grundlage verstaubter Suchttheorien und Theorien sozialer Arbeit sowie den Ergebnissen fragwürdiger Multimorbiditätsstudien werden alle Patienten generell verkrankt und als behandlungs- und betreuungsbedürftig deklariert (natürlich gibt es einige wenige Ausnahmen!). Therapeutische Darmspiegelungen haben wieder Hochkonjunktur – sie belasten ja auch nicht die Krankenkassen. Man übt sich in verbalem Rückenschwimmen. Dies gipfelt in der verbalakrobatischen Höchstleistung: „Wir beschreiben unsere Haltung als kritisch-akzeptanzorientiert“ (SOZIALBERATUNG SCHWÄBISCH GMÜND 2003, 3). „Kritisch-akzeptanzorientiert“, das Unwort des Jahres 2003 im Drogenhilfesektor!

Was ist „PSB“ denn anderes als ein Abbild originärer Aufgaben und Angebote der Sozialarbeit und somit auch von Drogenhilfeeinrichtungen, die tagtäglich auch außerhalb der Substitution zum „Kundendienst“ gehören und allen Drogengebrauchenden zur Verfügung stehen? Darüber hinaus: Zu wie vielen Nicht-Substituierten hat die Drogenhilfe noch Kontakt, bei denen Substitutionsaspekte nicht auch eine Rolle spielen (Beigebrauch, Arztsuche, Vermittlungsbemühung zwischen Arzt und Patient, Arbeit/Beschäftigung und Qualifizierung etc.). PSB ist nichts „Besonderes“ (mehr) und bedarf keineswegs einer von vielen bereits angedachten spezifischen Qualifikation der Mitarbeiter. Sie darf auch nicht als „substitutionsspezifisch“, sondern muss als integraler Bestandteil der Drogenhilfe begriffen werden. Substituierte, wie auch Nicht-Substituierte, sollten auf Wunsch mit ihren individuellen Hilfebedarfen mit den notwendigen und verfügbaren Ressourcen zusammen gebracht werden. Angesichts von 50.000 bis 60.000 Substituierten in Deutschland kann von allen Mitarbeitern von Drogenhilfeeinrichtungen durchaus erwartet werden, dass sie über Kenntnis der rechtlichen Situation zur Substitutionsbehandlung und Wissen über die verwendeten Substanzen und deren Wirkung sowie über Kommunikationsfähigkeit mit Kollegen, Ärzten und Institutionen verfügen (Spätestens mit Hilfe allseits beliebter Supervision und regelmäßiger Qualitätskontrollen müsste dies doch machbar sein. Dazu gesellen sich zig kommunikationsfähigkeitsfördernde Teamsitzungen, Abteilungsleitertreffen, Arbeitskreise, Workshops, Qualitätszirkel, Tagungen, Seminare etc. – wann bleibt eigentlich noch Zeit für das Klientel?!). Um es noch einmal deutlicher zu formulieren: Vor Eintritt in eine Substitutionsbehandlung sind Drogengebraucher im Bedarfsfall PSB-mäßig unterstützt worden, und nun findet PSB für die gleichen Menschen im Rahmen der Substitution statt. Ein Teil der Substituierten muss also aus der Vorsubstitutionszeit bekannt sein. Allerdings: Bei starrer Organisationsstruktur und stringenter Aufgabenzuschreibung kann es durchaus sein, dass für den für Substituierte zuständigen („spezialisierten“) PSB-Stelleninhaber die „Klienten“ wirklich alle neu (unbekannt) sind. Es kann aber auch durchaus der Fall sein, dass sich im Zuge der erhöhten Nachfrage nach PSB bzw. nach PSB-Bescheinigungen der Drogenhilfe (weil die substituierenden Ärzte nun wohl richtlinientreuer dokumentieren möchten) tatsächlich zuvor nicht bekannte Drogenabhängige/Substituierte vorstellen. Bei INDRO e.V. in Münster wurde bisher die Erfahrung gemacht, dass trotz angewandtem Rotationsverfahren (siehe im folgenden) nur ca. 50 Prozent der Nachfragenden schon einmal die Einrichtung vor Substitutionsaufnahme besucht/kontaktiert hatten. Ca. 50% der Substituierten sind den Mitarbeitern also unbekannt! Nun mag natürlich die Frage aufgeworfen werden, wieso diese Drogenabhängigen zuvor nicht mit den niedrigschwelligen Angeboten erreicht worden sind. Die Antwort hierauf ist so simpel wie kurz: Sie hatten keine Hilfe nötig! Es verwundert daher kaum, dass ca. 90% dieser bislang „Unerreichten“ von den Mitarbeitern als stabil und sozial integriert beurteilt werden (viele von ihnen sind berufstätig). Diese Patientengruppe bedarf in der Regel keiner (regelmäßigen) psychosozialen Unterstützung, bekommt aber das Angebot, sich nach persönlichem Bedarf oder in eventuell eintretenden Krisensituationen jederzeit an INDRO e.V. wenden zu können.

Ich plädiere für eine klare Absage an Spezialistentum: Starre Organisationsstrukturen in Drogenhilfeeinrichtungen sind kontraproduktiv, arbeitshinderlich und nutzerfeindlich. In der Regel ist ein Mitarbeiter für PSB zuständig (PSB-Stelleninhaber). Aufgrund der damit verbundenen Kompetenzzuschreibung ist integriertes Arbeiten nicht möglich; es gibt u.U. Kompetenzgerangel und „fachliche“ Eitelkeiten: Ich bin zuständig für PSB, Du dafür! In vielen Einrichtungen weiß die eine Hand nicht, was die andere tut. So leben „Expertensingles“ durch Selbstaufwertung und fachliche und räumliche Abgrenzung von anderen Arbeitsbereichen. Es folgt der Ruf nach spezifischen Standards aufgrund Legitimationsdrucks/Positionsfindung und –festigung in der jeweiligen Einrichtung und Selbsterhaltungstriebes (Stellensicherung). Solche Art von PSB geht im Übrigen nur mit festen Terminen und/oder der Inkaufnahme von längeren Wartezeiten für die Patienten.

Ich halte die bisherige Organisationsstruktur von Drogenhilfeeinrichtungen generell für obsolet. Aus Gründen der Nutzerorientierung, aber auch aus Kostengründen, trete ich für eine Umstrukturierung in Richtung Flexibilisierung ein: eine Reihe von Behörden wie z.B. Straßenverkehrs- oder Einwohnermeldeämter, starre Apparate, von denen man sich nur schwerlich einen positiven Wandel in Richtung Kundenorientierung hätte vorstellen können, sind eindrucksvolle Beispiele dafür, dass selbst sie flexibilisierungsfähig sind. Die drastischen Kürzungen von Fördermitteln im Drogen- und Suchtbereich, wie z.B. in Nordrhein-Westfalen, werden mittel- bis langfristig unweigerlich einen Prozess der Reorganisation der Drogenhilfe in Gang setzen. INDRO e.V. arbeitet bereits seit über einem Jahrzehnt entsprechend der hier eingeforderten Flexibilisierung. So ist zum Beispiel im Bereich von PSB nicht nur der offizielle Stelleninhaber des Landesförderprojektes Ansprechperson für Substituierte und deren Ärzte, sondern gleichzeitig sind auch alle weiteren Mitarbeiter der Einrichtung rotierend und flexibel im Rahmen von PSB tätig. Dies bietet eine offene Gestaltung von PSB ohne Terminabsprache während der Öffnungszeiten des Drogenhilfezentrums und ohne spezifische Kompetenzzuschreibung. Somit wird eine direkte, schnelle und flexible Unterstützung als nutzerorientierte Dienstleistung jederzeit möglich – Wartezeiten entfallen, nicht nur in Krisensituationen, wobei selbstverständlich auch terminbezogene Beratungszeiten im Bedarfsfall angeboten werden können. Dieses flexible Rotationsprinzip findet bei INDRO e.V. in fast allen anderen Arbeitsfeldern und –bereichen ebenso erfolgreich Praxisanwendung (dies bedeutet nicht, dass Substituierte keine festen Ansprechpartner haben). Benchmarking, Einzelfallbesprechung, teaminterne Probleme können direkt interaktiv diskursiv in der Alltagspraxis abgehandelt werden (Praktizierung bedarfsorientierter und situationsbedingter interner „Qualitätszirkel“). Das hier kurz skizzierte praxisintegrierte „Modell“ ist kostensparend, nutzerorientiert, flexibilitätsfördernd und qualitätsgenerierend und wirkt sich fluktuationsmindernd auf den Mitarbeiterstab aus. Es macht zudem den Einsatz eines „Qualitätsbeauftragten“ überflüssig und setzt somit zusätzliche personelle Ressourcen für die konkrete praktische Arbeit frei.

Im übrigen gibt es in Münster seit fast 15 Jahren eine qualitätssichernde „Institution“, den VTA (Verein zur Therapie abhängig Erkrankter), der sich aus Mitgliedern aller an der Substitutionsbehandlung Beteiligten zusammensetzt (substituierende Ärzte, Apotheker, Drogenhilfe, Aidshilfe, Gesundheitsamt), die sich 8 Mal im Jahr zu gemeinsamen Sitzungen treffen – ein Qualitätszirkel, der sich nur nicht so nennt!

Ich hoffe auf eine angeregte Diskussion, an deren Ende wir vielleicht wissen, was wir tun!

Literatur beim Verfasser