Newman & Gerlach: Methadonsubstitution: Skizzierung zentraler Therapiegrundlagen

Methadonsubstitution: Skizzierung zentraler Therapiegrundlagen*

ROBERT G. NEWMAN & RALF GERLACH


 
Vorbemerkung
Aktuell vollzieht sich eine erfreuliche Entwicklung: die Planung und/oder Einführung von Methadonprogrammen in zentralasiatischen, osteuropäischen und in Staaten der ehemaligen Sowjetunion. In den Ländern, in denen die Methadonbehandlung bereits seit vielen Jahren etabliert ist, erhalten zunehmend mehr Ärzte und Ambulanzen eine Zulassung zur Substitutionstherapie, und es wird dort eine Angebotserweiterung zur Realisierung einer flächendeckenden Versorgungsstruktur angestrebt. Daraus ergibt sich eine gesteigerte Notwendigkeit für die Vermittlung zentraler Therapiegrundlagen, denn ohne solche Informationen ist das Potential für „Katastrophen“ enorm hoch. Daher erachten wir, trotz einer fast unüberschaubaren Anzahl an bereits publizierten Richtlinien, Handbüchern und Ratgebern, eine kurze Skizzierung der allerwichtigsten Behandlungs-Prinzipien für notwendig und hilfreich. Die Erfahrung lehrt uns zwar, dass grundlegende Prinzipien in der Regel ignoriert werden, selbst wenn sie bekannt sind. Nichtsdestotrotz sehen wir geradezu eine Verpflichtung dazu, die wesentlichen Grundlagen der Methadonsubstitution zu verbreiten. Idealerweise sollten sie in vielen unterschiedlichen Sprachen und Medien zur Verfügung gestellt werden. Dies wird auch geschehen: Die englische Originalversion wird in viele Sprachen übersetzt; die jeweiligen fremdsprachigen Fassungen werden u.a. auf den Internetseiten von INDRO e.V. und des Chemical Dependency Institute bereit gestellt werden.

Die nachfolgend vorgestellte deutschsprachige Fassung der Grundprinzipien in Bezug auf die Methadonbehandlung wurde in Zusammenarbeit von INDRO e.V. mit Prof. Dr. Robert G. Newman vom Baron Edmond de Rothschild Chemical Dependency Institute of Beth Israel Medical Center (CDI), New York, erstellt:

Substitution mit Methadon: „Minimalstandards“ –
Ein Wegweiser für Behandlungsanbieter und Neueinsteiger

Grundlegende Empfehlungen

Methadon sollte unter voller Ausschöpfung nationaler gesetzlicher und Richtlinien bedingter Rahmenbedingungen zur Anwendung gelangen, und zwar gemäß den gleichen professionellen und ethischen Standards, wie sie für alle anderen Dienstleistungen im Gesundheitssektor gelten.

Die Anbieter von Methadonbehandlungen sollten sich für die praktische Umsetzung einer breiten Palette an medizinischen und psychosozialen Therapie- und Unterstützungsansätzen einsetzen; sie sollten ferner auf Nachfrage Hilfestellung leisten bei der Vermittlung und beim Transfer von Patienten.

Der immense Erfahrungsschatz, der uns hinsichtlich des Einsatzes von Methadon in der Behandlung der Opioidabhängigkeit zur Verfügung steht, sollte maximal genutzt werden. Er ist abrufbar über internationale Fachliteratur, webbasierte Ressourcen oder direkte Konsultation von in der Substitutionstherapie erfahrenen Kollegen.

Die Behandlung mit Methadon (methadone maintenance) führt zu keinerlei Organschädigungen – selbst nach Jahrzehnte langer Therapieteilnahme sind keine die Gesundheit ernsthaft beeinträchtigenden Effekte dokumentiert.

Der Lebenswandel von Patienten kann bei Behandlungsbeginn chaotisch sein und ein größeres Maß an Kontrolle und Struktur rechtfertigen. Doch alle auferlegten Beschränkungen (z.B. bei der Take-Home-Medikation) sollten regelmäßig einer Überprüfung unterzogen und gelockert oder aufgehoben werden, wenn eine Stabilität erreicht ist.


Dosierung

Allgemein: Niedrig beginnen, langsam steigern – aber hohe Dosierungen anstreben

  • Primum non nocere: Schätzungen zum Grad der Abhängigkeit und zur Toleranz sind unzuverlässig und sollten nie als Grundlage zur Bemessung der Initialdosis von Methadon dienen; sollte die Schätzung nämlich falsch sein, könnten lebensbedrohliche Überdosierungen verursacht werden.
  • „Hohe“ oder „niedrige“ Dosierungen dürfen keiner moralischen Bewertung unterzogen werden.
  • Methadon sollte weder als „Belohnung“ verabreicht noch als „Bestrafung“ vorenthalten werden.

Speziell

  • Die Initialdosis sollte 30 mg (Methadon-Razemat) nicht überschreiten
  • Auf- oder Abdosierungen sollten stets schrittweise erfolgen. Wenn Patienten auf einem relativ niedrigen Dosierungslevel eingestellt sind (unter 60 mg täglich) sollten sowohl aus Gründen der Sicherheit als auch zum Wohlergehen des Patienten kleinere Dosisveränderungen (z.B. 5 mg auf einmal), und zwar in größeren Intervallen (z.B. alle fünf Tage) vorgenommen werden, während bei höheren Dosierungen größere und häufigere Wechsel (z.B. 10 mg alle 3 Tage) im allgemeinen sicher sind.
  • In der Regel korrelieren höhere Methadondosen mit besseren Behandlungsergebnissen als niedrige Dosierungen; bei den meisten Patienten ist die optimal wirksame Spannbreite zwischen 80-120 mg pro Tag anzusiedeln.
  • Als Reaktion auf subjektiv geäußerte Beschwerden, wie z.B. „Die Methadonmenge reicht nicht aus“, ist ein Splitten und/oder eine Erhöhung der täglichen Dosis in Erwägung zu ziehen; dies kann besonders bei schwangeren Patientinnen und/oder bei Patienten in anti-retroviraler Therapie Bedeutung erlangen.


Ergänzende Hilfsangebote

  • Je mehr Angebote vorgehalten werden können, desto besser, aber für solche Angebote sollte keine Teilnahmeverpflichtung bestehen.
  • Eines der bedeutendsten Effektivitätshemmnisse in Bezug auf die Methadonbehandlung ist das weit verbreitete Stigma, dass mit der Krankheit, den Patienten und der Behandlung verbunden ist. Patienten sollten im Umgang mit diesem Stigma unterstützt werden, und Ärzte und Drogenberatungsstellen sollten jede Gelegenheit ergreifen, die Öffentlichkeit sachgerecht aufzuklären (einschließlich, was vielleicht am allerwichtigsten ist, ihrer Berufskollegen).


Behandlungskontinuität wahren

  • Stets sollten, so verbindlich wie möglich, Vereinbarungen getroffen werden bezüglich der Weiterführung der Methadonbehandlung, wenn Patienten in Institutionen eingewiesen (z.B. Krankenhaus, Haftanstalt) oder wenn sie von dort wieder entlassen werden.
  • Wenn kein eindeutiger dokumentarischer Beleg darüber vorliegt, dass im vorherigen Behandlungssetting höhere Methadondosierungen verabreicht worden sind, sollten die für neue Patienten empfohlenen Dosierungshinweise beachtet werden.

Urin-Toxikologie, Serum-Methadonspiegel

  • Der Nutzen dieser oder anderer Labortests muss sorgfältig gegenüber ihren Kosten abgewogen werden sowie gegenüber den potentiellen Vorteilen der Erweiterung von Hilfsangeboten, für die die zur Verfügung stehenden finanziellen Ressourcen alternativ genutzt werden könnten.
  • „Abpinkeln“ unter Sichtkontrolle zwecks Urinprobenentnahme ist erniedrigend und steht in der Regel der Entwicklung einer optimalen Arzt-Patienten-Beziehung entgegen.
  • Auf Labortest-Ergebnisse sollte sich, unabhängig von der Art und Weise der Probenentnahme und der Testmethode, nicht verlassen werden, wenn der klinische Eindruck diese Ergebnisse nicht stützt.


Therapieziele

·        Therapieziele können sich auf Bereiche wie Heroingebrauch und den Gebrauch anderer psychotroper Substanzen, HIV-Risiko-Verhalten, zwischenmenschliche Beziehungen, Arbeit, Wohnen etc. beziehen – sie sollten gemeinsam zwischen Arzt und Patient sowie im Bedarfsfall mit einer psychosozialen Beratungsstelle besprochen, aber in der Regel nicht (allein) von den professionellen Helfern definiert werden.

Informed consent (Umfassende Patientenaufklärung) – besondere Aspekte in der Suchtbehandlung

·        Der Patient muss zu Behandlungsbeginn darüber informiert werden, wenn sich der behandelnde Arzt oder eine Ambulanz primär gegenüber dem Staat/Gesetzgeber oder einem anderen Dritten verpflichtet fühlen (z.B. Gericht, Arbeitgeber, Familienmitglieder etc.). Selbst in den Fällen, in denen dies nicht der Fall ist, muss angenommen werden, dass Patienten in vielen Ländern nicht glauben werden, dass ihre Vertraulichkeit geschützt wird, und diese Annahme – ob gerechtfertigt oder nicht – die therapeutische Beziehung beeinflussen kann.

·        Patienten müssen über die spezifischen Gründe für einen möglichen, unfreiwilligen Behandlungsabbruch aufgeklärt werden und über die ihnen zur Verfügung stehenden Rechtsmittel, die sie gegen solche Therapieabbrüche einlegen können.

·       Patienten, die eine freiwillige Beendigung der Behandlung erwägen, müssen über die  hohe Rückfallwahrscheinlichkeit informiert werden.

 

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