Wolfgang Schneider und Ralf Gerlach: Kritische Anmerkungen zur Medizinalisierung der Drogenhilfe,zur heroingestützten Behandlung und zum „CMA-Gütesiegel“

Kritische Anmerkungen zur Medizinalisierung der Drogenhilfe,zur heroingestützten Behandlung und zum „CMA-Gütesiegel“

Wolfgang Schneider und Ralf Gerlach

„Zu den Strukturmerkmalen
des Suchtbegriffs gehört es,
unerwünschtes Verhalten
beliebig pathologisieren
zu können“
(SPODE 1993, S. 273)

Gegenwärtig erleben wir drogenpolitisch eine Renaissance des Krankheitsparadigmas zur inhaltlichen Bestimmung, was denn nun „Drogenabhängigkeit“ ist. Ungenauigkeiten und Mängel begrifflicher Konstrukte im Rahmen der Drogen- und Suchtdiskussion (Sucht, Abhängigkeit, schädlicher Gebrauch, Mißbrauch und – neuerdings – „Schwerstabhängigkeit“) werden kaum noch reflektiert: Man unterstellt ein gegenseitiges Wissen über das, worüber man spricht, die Kontextgebundenheit spezifischer Wertvorstellungen scheint ausgeklammert, und es wird nicht (mehr) wahrgenommen, daß die Diskussion nicht selten auf einer Ebene diffuser „Pseudoverständigung“ auf der Basis leichtfertig konstruierter „Worthülsen“(FUCHS/GÖLZ 1999, S.8) erfolgt. Über eins jedoch herrscht anscheinend Klarheit: Das, was man als Drogenabhängigkeit begreift, ist als eine Krankheit anzusehen.

Durch die gegenwärtige, institutionelle Festschreibung von Drogenabhängigkeit als Krankheit wird beispielsweise versucht, die Ausweitung der Substitution mit Methadon zu begründen und zu rechtfertigen. Auch wenn man dies als eine strategische Konstruktion ansieht, um möglichst viele kompulsiv (zwanghaft und exzessiv) Drogengebrauchende in den „Genuß“ der Methadonsubstitution kommen zu lassen, erscheint uns die generalisierende Tendenz doch gefährlich. Gefährlich insofern, als daß Drogengebrauch generell als krankhaftes Verhalten angesehen und somit eine weitere Entmündigung der drogengebrauchenden Mitbürger vorangetrieben wird. Neue Forschungsergebnisse zeigen, daß Drogengebraucher weder per se behandlungsbedürftig, noch generell krank sind. Die verallgemeinernde Anwendung des Konstruktes „Krankheit“ ignoriert Forschungsbefunde, wonach ein selbstkontrollierter, risikobewußter, auch genußorientierter Umgang mit illegalisierten Drogen und Selbstausstiegsprozesse ohne professionelle Betreuung auch unter der Drogenverbotspolitik durchaus möglich, ja relativ weit verbreitet sind (etwa: WEBER/ SCHNEIDER 1992; SCHNEIDER 1993; HAPPEL/ FISCHER/ WITTFELD/ 1993; CRAMER/ SCHIPPERS 1996; SCHMIDT 1996,1999). Durch eine generelle Pathologisierung wird der Betroffene zum Behandlungsobjekt und einer Vielzahl medizinischer Experten überantwortet. Diese zunehmende Medizinialisierung führt dazu, Drogengebrauch vermehrt als mental-körperliches Gebrechen (neurophysiologische Krankheit) zu sehen (neben seiner psychiatrischen Störungsvariante). „Substance use disorders (abuse or dependence on … illegal drugs) belong to the most frequent forms of mental disorders in the community, and are also frequently associated with other forms of mental disorders (comorbidity)“ (WITTCHEN/PERKONIGG/REED 1996, S.36). Dabei ist Drogenabhängigkeit kaum ein „objektiv“ überprüfbares Konzept, sondern mehr eine normativ-gesellschaftliche Konstruktion, wobei kulturelle Bewertungskriterien dominieren (zur näheren Begründung vgl. SCHNEIDER 1996; auch: NOLTE 1998). „Der Umgang mit Drogen hängt weithin davon ab, wie wir mit Drogen umgehen. Ob sie uns als „Genußmittel“ dienen oder als „Rauschgift“ gelten, ist eine Frage kultureller Bewertung“(QUENSEL 1996,S.7). Die oben erwähnten Forschungsergebnisse verdeutlichen, daß die gängigen Implikationen von Drogenabhängigkeit als „objektive“ Diagnosekriterien (wie zwangsläufige Toleranzentwicklung und Dosiserhöhungstendenz, Handlungsunfähigkeit, sofortiger Selbstkontrollverlust, automatischer körperlicher und sozialer Verfall, generelle Behandlungsbedürftigkeit, störungsgeschüttelte Defizitgestalt) in ihrer Pauschalität nicht mehr haltbar sind. Es gibt sie natürlich, die extrem somatisch, psychisch und sozial verelendeten, häufig polytoxikomanen und nicht „wartezimmer- und verabredungsfähigen“ Drogenkonsumenten und Methadonpatienten. Sie sind ja auch seit Jahren schon nicht mehr zu übersehen, trotz zunehmender ordnungspolitisch-motivierter Vertreibungsstrategien („Junkie-Jogging“) – auf Bahnhöfen und Bahnhofvorplätzen, in öffentlichen Parkanlagen und anderen Rückzugsnischen sowie zunehmend auch in den Einrichtungen der Drogen- und AIDS-Hilfe und in Arztpraxen und Kliniken. Es wird aber nicht zur Kenntnis genommen, daß es auch andere Drogengebraucher gibt als die „eigenen“, problembeladenen Patienten oder „Klienten“( „Tellerrandphänomen“). Die anderen, kontrollierten und sozialintegrierten Gebraucher bekommt man nicht zu Gesicht – warum auch?! Darüber hinaus bieten Institutionen einen leichten (immer bequemen) Zugang zu „unerschöpflichen“ Probandenpools von „Störungsbündeln“ als bevorzugte Objekte der Mainstream-Forschung. Es gibt sie also die beschriebenen Phänomene, sie sind jedoch meist als Erscheinungs- und Bedingungsformen der Verbotspolitik und nicht als unabänderliche Kausalkonzepte anzusehen. Gesundheitliche Begleit- und Folgeschäden des illegalisierten Drogengebrauchs sind demnach weniger substanzbedingt (wenn die Substanzen in reinem Zustand und nicht, wie auf dem illegalen Drogenmarkt üblich, mit schädlichen Substanzen gestreckt sind), sondern in erster Linie Folge kriminalisierter Konsumbedingungen und Verwendungskontexte. Es erscheint daher sinnvoll, die schädlichen Auswirkungen von Drogengebrauch in „substance-related“ und „law-related zu differenzieren, d.h. es sollte eine konturscharfe Trennung zwischen Drogen- und Drogenpolitikwirkung erfolgen.

Die gegebene Definitionsmacht der expertenbezogenen Diagnose (Klassifikationskataloge wie der ICD 10 und der DSM-III- und -IV-R stehen zur Verfügung) setzt jedenfalls auch die Kriterien bzw. Standards zum Umgang mit Gebrauchern illegalisierter Drogen. Behandlung, Verwahrung, Versorgung selbst sind die Konsequenzen der Machtausübung diagnostischer „Fürsorglichkeit“. Elegant ist diagnostische Macht dann, wenn sie die Teilhabe an ihren „Segnungen“ als Recht auf Behandlung, Versorgung, Hilfe deklariert. Diagnostische Macht als expertokratisch gesetzte Standards „erhebt nicht nur Anspruch darauf, verbindlich zu definieren, was normal ist, sie erschöpft sich nicht darin, verpflichtende Standards vorzuschreiben, sie monopolisiert auch die Verfahren, mit deren Hilfe die jeweiligen Normalitätsstandards erreicht werden können“ (GRONEMEYER 1988, S. 36). Nur innerhalb dieser von der diagnostischen Macht verwalteten und überwachten Hilfspogramme kann „der Drogenabhängige“ zu seinem „eigentlichen Wesen“ gelangen. „Da ein jeder sich um so zugehöriger fühlen kann, je weniger zugehörig andere sind, bestehen alle auf der striktesten Einhaltung der Normalitätsstandards, dulden keine Ermäßigung und fordern die Ahndung von Abweichungen. In der Konkurrenz um Konformität verteidigen die darin Befangenen nach Kräften die eigenen Fesseln“(GRONEMEYER 1988, S. 37). Die unüberbrückbaren Differenzen zwischen Laien und Experten führen darüber hinaus zu Sonderwissen, Geheimwissen, implizites Wissen nebst zugehörigem „Eindrucksmanagement“: Eine derartige „Expertokratisierung“(ILLICH 1979), also durch diejenigen, die „durch ihre Position in einer Institution oder durch ihr unterstelltes Sonderwissen zum Experten“(ACKERMANN/SEECK 1999, S.10) gemacht werden, hat eine Entmündigung, eine „Veropferung“ der Betroffenen zur Folge.

Die in sozialwissenschaftlichen Studien festgestellte Variabilität und Heterogenität der Verlaufsmuster und Bedingtheiten des Gebrauchs illegalisierter Drogen und die mögliche Entwicklung zwanghafter und exzessiver Gebrauchsmuster (und damit sicherlich auch „Krankheiten“) steht jedoch der weit verbreiteten Dramaturgie der linearen Abhängigkeitsentwicklung und monokausalen (meist pharmakologischen) Interpretation entgegen (Gebrauch illegalisierter Drogen als Einbahnstraße, als Sackgasse). Die vereinfachende, angebliche Kausalkette „Pharmakologie der Droge – Persönlichkeitsdefizit – (Mythos ‘vom biographiebestimmten Trauma der frühen Kindheit’ (DANZER 1996, S. 12) – Störungsakkumulation – Abhängigkeit als statischer Zustand – Therapie – Abstinenz“ hat sich inzwischen als Fata Morgana erwiesen, obwohl weiterhin viele „Drogenexperten“ die Klaviatur der Eindimensionalitätszuschreibung virtuos bedienen. Ferner bestimmen Diabolisierungs- und Dramatisierungsszenarien als immerwährende Reproduktion von Drogenmythen die wissenschaftliche, öffentliche und auch drogenhilfepraktische Diskussion (etwa: SCHNEIDER 1998). Immer noch dominiert die sog. „berufliche Fürsorglichkeit“ gestützt auf der Annahme, daß „Klienten“ zu „Klienten“ werden, weil sie „Träger“ von Defiziten, Problemen, Pathologien und Krankheiten sind. Dies hat u.a. auch zur Folge, daß sich der Nutzer der Drogenhilfe, will er denn die institutionelle Interaktion nicht scheitern lassen, in das „Gehäuse“ der „Experteninterpretation“ begibt (u.a. die Übernahme therapeutischer Sprachregelung als ritualisierte Form der Anpassung) und die angebotenen Wahrnehmungs- und Deutungsweisen übernimmt (vgl. auch: HERRIGER 1997).

Die verallgemeinernde Blickrichtung auf das Phänomen Drogengebrauch/Drogenabhängigkeit resultiert in einer generellen Pathologisierung aller Drogengebraucher. Oder anders ausgedrückt: Wenn eine Situation als real beschrieben wird, sind auch die Konsequenzen real. Daß hierbei die Ausgangspunkte nur wertbezogene Konstruktionen von Wirklichkeiten sind, wird nicht mehr wahrgenommen.

Inzwischen ist es doch so, daß alle Drogendienstleistungsunternehmen (von der Methadonvergabe über Fixerräume bis hin zur Originalstoffvergabe) ihre Existenz und Ausweitung auch über die soziale (gesellschaftliche) Konstruktion „des Drogenproblems“ und zugehöriger Drogenbilder, über die Klientelisierung und Pathologisierung der Konsumenten und über ordnungspolitische Gegebenheiten (unsere Stadt soll schöner werden) legitimieren. Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Wir bejahen ausdrücklich den Einsatz von Methadon oder anderen Substitutionsmitteln, Konsumräume zur hygienisch-kontrollierten Applikation von Drogen und die geplanten Versuche (Pilotprojekte) zur kontrollierten Originalstoffvergabe sowie einen pragmatischen Umgang auch mit ordnungspolitischen Notwendigkeiten. Wir sehen allerdings die Gefahr einer unheiligen Allianz zwischen Psychiatrie, Allgemeinmedizin und Ordnungs- und Finanzpolitik. Die bedingungslose Hinwendung zum Krankheitsparadigma zeigt sich bei der geplanten staatlich kontrollierten Orginalstoffvergabe überaus deutlich: Unter höchst selektiven Bedingungen (Nachweis schwerer, finaler Krankheitszustände, Erfolglosigkeit anderer Behandlungsmethoden, Zwang zur Teilnahme an psychosozialen Begleitbetreuungen, Dauer der Heroinabhängigkeit mindestens zwei Jahre, Mindestalter 20 Jahre) wird der dann ausgewählte „Schwerstabhängige“ „zum staatlich registrierten und kontrollierten Kranken“ (SCHMIDT-SEMISCH 1994, S.6). Ein Kriterienkatalog zur Bestimmung, Festschreibung und Operationalisierung von „chronisch mehrfachgeschädigten Abhängigen von psychotropen Substanzen“ (CMA) wird bereits erarbeitet. Dabei muß eine „Mindestpunktzahl“ in den Bereichen Konsumverhalten, Behandlungserfahrungen, gesundheitliche/psychische Situation und soziale/materielle/rechtliche Situation expertenbezogen zugeordnet werden. „Um als chronisch mehrfachbeeinträchtigte Abhängige (CMA) diagnostiziert zu werden, muß in drei der vier Kriteriumsbereiche ein Punkt erreicht werden“(KÜFNER 1999, S.9). Diejenigen, die nicht als „Schwerstabhängige“ definiert worden sind, müssen also erst „schwerstabhängig“ werden, um in den „Genuß“ der Orginalstoffvergabe zu kommen oder sie bleiben „draußen vor der Tür“. Sicherlich ist es begrüßenswert, daß durch die Orginalstoffvergabe Heroin als die Inkarnation des Bösen schlechthin, als das „Symbol für gesundheitliche und soziale Gefährlichkeit“ (MICHELS/STÖVER 1999, S.205) enttabuisiert wird in Richtung einer Substanz mit therapeutischem Wert. Die Mono-Verschreibung von Heroin nur an Menschen mit „CMA-Gütesiegel“ (hier ist nicht das Fleisch aus deutschen Landen gemeint) wird jedoch auch aufgrund der polyvalenten Gebrauchsmuster in den Szenen kaum etwas an den kriminalisierten Lebensbedingungen der Konsumenten und der Illegalität des Drogenmarktes ändern. Eine moderne Drogenpolitik sollte es „schlicht und einfach ermöglichen, daß Ärzte und Abhängige gemeinsam herausfinden, welche Substanzen in welchen Situationen angewandt werden müssen“ (COHEN 1998, S.19). Ohne Zweifel ist es richtig und wichtig, mehr Ärzte in die – wie es so schön heißt – Suchtkrankenhilfe kooperativ einzubeziehen. Wir befürchten indes jedoch durch die definitorisch-standardisierte Festschreibung des Konstrukts „Drogenabhängigkeit ist Krankheit“ und das diagnostisch operationalisierte „Gütesiegel“ CMA (in den Niederlanden auch „chronisch therapieresistente Heroinabhängige“ genannt) eine weitergehende Entmündigung und Klientelisierung (Unterstellung genereller Behandlungs-bedürftigkeit) der drogengebrauchenden Menschen, eine Negierung des auch selbstverantwortlichen, genußorientierten, regelorientierten und risikobewußten Umgangs mit illegalisierten Substanzen und die – politisch gewollte, weil international angeblich nicht durchsetzbare – Aufrechterhaltung und damit Verewigung der Substanzillegalität. EDWIN SCHOLZ hat Recht, wenn er schreibt, daß dadurch das „Thema einer juristischen Gleichstellung aller Drogenkonsumenten sowie die Frage nach der Humanität derartiger Programme zu den Akten gelegt worden ist“ (SCHOLZ 1999, S. 3).

Die generelle Pathologisierung von Gebrauchern illegalisierter Substanzen und die Etikettierng derselben als kriminell (Behandlung/Bestrafung) sichert jedenfalls – so unsere These – die normative und damit öffentlichkeitswirksame „Drogenordnung“ durch den Einsatz legitimierter Zwangsmittel. Es ist nämlich so: Sobald ein Drogengebraucher auffällige Verhaltensweisen zeigt, bzw. diese als auffällig wahrgenommen werden, beginnt – ganz im Sinne des linear-kausalen Denkens – die „Fahndung“ nach dem Täter. Entweder derjenige, der dieses als abweichend definierte Verhalten demonstriert, ist selbst der Schuldige. Oder aber diejenigen, die ihn dazu „gemacht“ haben, werden als Schuldige erklärt (bestimmte Gene, gutmütige oder verwerfliche Eltern, dubiose Verführer, schlimme Umfeldbedingungen oder gar „die“ kapitalistische Gesellschaft). Insofern ist der Betroffene ein Opfer. Somit muß er dann gerettet, aus den Klauen der Droge befreit werden. Folge dieses linear-kausalen Denkens ist, daß immer einer der Schuldige, und einer das Opfer ist. Nun ist es möglich, das Konstrukt „Krankheit“ anzuwenden. Mit dem Etikett „krank“ oder „schwer krank“ („CMA-Gütesiegel“) ist ein unmittelbar Schuldiger ausgeklammert. Der Kranke ist nur noch passives Opfer. Krankheit (hier Drogenabhängigkeit) ist dann der Täter, der Gegner, dessen Bekämpfung alle vereinen und alle von Schuld freisprechen kann. Die zunehmende Medizinalisierung und Psychiatrisierung des „Drogenproblems“ fördert nun – ob gewollt oder nicht – diese verallgemeinernde Pathologisierung von Gebrauchern illegalisierter Drogen und macht sie – wider besseres Wissen – zu unmündigen Behandlungsobjekten. Mitsprache- und Selbstbestimmungsrecht? Wo kämen wir denn da auch hin, die „Patienten“, die „CMA´S“ selbst in eine Behandlung einzubeziehen?! Sie sind ja ein schwieriges „Klientel“: „sie tricksen, sie lügen, sie wehren sich, sie sind nicht einsichtig“(HERWIG-LEMPP 1994, S.107). Ohne einem „voraussetzungslosen Individuum“(DEGWITZ 1999, S.17) das Wort zu reden, der Illusion des freien Willens anheimzufallen oder gar die psychischen und sozialen Problemkonstellationen eines auch süchtigen Drogengebrauchs leugnen zu wollen, stigmatisiert jedoch die zunehmende Etikettierung als „schwerstabhängige Drogenkranke“ die betroffenen Menschen gleich als zweifache Opfer: schwerst abhängig und drogenkrank. Hier greift denn auch der „Alles-Oder-Nichts-Mythos“, wonach „Drogenabhängige“ sich von „Nichtdrogenabhängigen“ qualitativ unterscheiden: Entweder man ist drogenabhängig oder nicht, man kann nicht „ein bißchen drogenabhängig sein“(HERWIG-LEMPP 1994, S.42). Drogengebraucher selbst werden bei alledem – wie gehabt – überhaupt nicht gefragt, geschweige denn einbezogen.

Ist nicht auch der Gesetzgeber – so wie es HARALD KÖRNER so schön formulierte – mehr als abhängig, nämlich schwerst abhängig von dem Glauben an eine drogenfreie Gesellschaft, von dem Glauben an die Wirkungen der Repression? (vgl. KÖRNER 1999, S. 208).

So paradox es klingen mag, die Pathologisierung von drogenkonsumierenden Mitbürgern als kranke, störungsgeschüttelte Gestalten aus einer „anderen“ Welt, die zunehmende „Bewilligung und Förderung“ der Medizinalisierung dient als Legitimation für die propagierte und zum Teil umgesetzte Teil-Entkriminalisierung (§31a BtMG). Dadurch werden die Strafverfolgungsbehörden von Bagatelldelikten entlastet, der Dealer ins Fadenkreuz gesetzt, und das weiterhin unerwünschte Verhalten „Gebrauch illegalisierter Drogen“ wird in „problematischen“ Fällen der medizinischen Behandlung zugeführt. Selbstverständlich geschieht dies nur unter standardisierten Vergabebedingungen, unter streng professionell- hierarchischen Strukturen, unter fachstellenspezifischer und qualitätssichernder Organisation und unter einer verbindlichen psychosozialen Betreuung als Zwangsmechanismus.

Durch die vollständige Anerkennung von „Drogenabhängigkeit als Krankheit“ würden medizinische Behandlungen (insbesondere mit Methadon und später auch mit Heroin) vielen zwanghaft und exzessiv Gebrauchenden offen stehen (was gut ist), aber gleichzeitig die Pathologisierung der Betroffenen festgeschrieben. Die Krankenkassen wären zur Behandlungsfinanzierung festgelegt, die öffentliche Hand finanziell entlastet. Alle drogenpolitischen Diskussionen und Veränderungen deuten auf eine derartige Umstrukturierung hin. Die zunehmende Medizinialisierung der Drogenhilfe verlangt denn auch eine neue Verteilung der Aufgabengebiete und eine Umschichtung der Aufgabenschwerpunkte. Interdisziplinäre Zentren entstehen, die quasi als Fachstellen für Teilbereiche des Drogenhilfesystems zuständig sind: etwa Substitutionsfachstellen mit integrierter psychosozialer Begleitbetreuung; Fachstellen für Prävention; Fachstellen für Niedrigschwelligkeit; Fachstellen für „Therapie Sofort“; Fachstellen für kontrollierte Vergabe von Heroin an „Schwerstabhängige“ (übrigens früher auch extrem problematische Drogenabhängige, sog. EPD’s genannt); Fachstellen für ambulante und stationäre Therapie (inklusive allseits beglückender, hochrangiger Experten-, Forschungs- und Arbeitsgruppen). Ein lückenloses Netz der Instanzen sozialer Kontrolle entsteht. Die Medizinalisierung der Drogenhilfe und die Medikalisierung der Drogenabhängigkeit „stellt den juristischen Status der Drogenkonsumenten nicht in Frage, sondern baut auf ihn auf… Das Problem wird so, unter zeitweiliger Zurückdrängung offener Repression, technisch unauffälliger handhabbar gemacht“ (CLAUS 1999, S.141). Dieses Zusammenspiel der Kontrollinstanzen dient also dazu, die normative Verbotsordnung durch subtilere Zwangsmittel zu sichern. Die Abstinenzorientierung bleibt weiterhin der Bezugspunkt. Darüber hinaus nehmen primärpräventive Strategiemaßnahmen zu, die auf Verhaltenssteuerung und Lebenskompetenzförderung ohne Drogen zielen (mit Recht stellt LUTZ KLEIN die Frage, warum gerade das „Drogenproblem“ als Anlaß für die Förderung von Lebenskompetenzen herhalten muß?; vgl. KLEIN 1999, S. 93). Diese Strategien sollen eine Lebensführung unterstützen, in der – wie schon KEUPP 1982 richtig feststellte –

 

 

„die Individuen ihr eigenes Devianzrisiko verringern (das heißt dann Verhaltensprävention). Diese ‘weicheren’ Formen sozialer Kontrolle sind eingelagert in sozialpolitische Dienstleistungsangebote, speziell im Typus der personalen Dienstleistungsangebote“ (KEUPP 1982, S.193).

Das Krankheitskonzept steht und fällt mit dem hohen gesellschaftlichen Wert „Gesundheit“. Gesundheit an und für sich hat in der individualisierten Gesellschaft einen bedeutenden Rang erklommen, ist sozusagen ein Leitwert der Moderne geworden. Insbesondere die Ausweitung der Medizintechnologie und der Ökologiebewegung hat dazu beigetragen, Gesundheit (und ihre Erhaltung) zu einer individuellen Gestaltungspflicht werden zu lassen. Krankheit gilt als Makel, Gesundheit und Fitness als eine Art irdische Heilserwartung (die Hoffnung auf das Jenseits hat sich ja im Zuge der Enttraditionalisierung und Säkularisierung der Gesellschaft aufgelöst). Verbesserung, Effizienzsteigerung, Optimierung heißt das allgemein-verbindliche Gebot. Doch was ist überhaupt „Gesundheit?“ Wer setzt die inhaltlichen Gesundheitskriterien? Um es mit ALBRECHT zu sagen:

„Verabschieden sie sich von der Vorstellung, Gesundheit sei quasi naturwissenschaftlich herstellbar … Auch Gesundheit ist Erfindung, soziales Konstrukt. Und die Vorstellung oder Imagination einer gleichsam vollständig gesunden Gesellschaft – einer ‘sane society’ – dürfte aus meiner Sicht zu den unerträglichsten sozialen Bildern gehören, die überhaupt denkbar sind“ (Albrecht 1995, S.16).

Dringender denn je ist es notwendig, „akzeptierende“, auch visionäre Drogenpolitik zu betreiben, d.h. es geht leztendlich um die Aufhebung der repressiv-paternalistischen Drogenverbotspolitik, moralistischer Drogenhilfe und um die Entzauberung der herrschenden Drogenmythen. Eine Aufhebung der Drogenverbotspolitik und damit der „Drogenkreuzzüge“ impliziert nun keineswegs die „Lösung“ des Suchtproblems, ist kein patentrezeptbewegter Königsweg. Aber Drogen würden so jenen unter qualitätskontrollierten Bedingungen verfügbar gemacht, die sie so oder so konsumieren und die dies unter den heutigen illegalen, lebensbedrohlichen Bedingungen tun.

„Wenn Sie z.B. ein Alkoholiker im Chicago der 30er Jahre wären und gerade das Portemonnaie Ihrer Großmutter gestohlen hätten, um ein Schlückchen dreckigen gepanschten Methylalkohol zum schwindelerregenden Preis von Herrn Capone zu kaufen, dann hätte ich nicht die mindesten Skrupel, Ihnen ein Glas vom besten schottischen Whisky zu verschreiben“(MARKS 1990, S.15).

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(Seite erstellt am 08.05.2000)